Frühzeitig ist rechtzeitig: Vorausschauende humanitäre Maßnahmen auf Konfliktsituationen ausweiten

18. November 2020   ·   Marie Wagner

Immer mehr humanitäre Akteure ergreifen vorhersagebasierte Maßnahmen schon bevor eine Katastrophe eintritt. Im Sinne einer umfassenden Krisenprävention sollte Deutschland auf Erfahrungen aus der Konfliktforschung aufbauen, anstatt Konfliktsituationen auszuklammern. Die Bundesregierung sollte dafür ressort- und länderübergreifende Kooperationen vorantreiben.

Viele humanitäre Krisen entstehen durch Katastrophen, die vorhergesagt werden können. Bevorstehenden Dürren oder Wirbelstürme und ihre humanitären Folgen sind absehbar. Obwohl humanitäre Akteure immer noch weitestgehend in Reaktion auf bereits eingetroffene Krisen handeln, kritisieren viele von ihnen seit einigen Jahren die eigenen Versäumnisse im vorausschauenden Handeln. Mit dieser Einsicht begann ein tiefgehendes Umdenken für die Planung und Finanzierung humanitärer Maßnahmen: Organisationen wie die Internationale Rotkreuz- und Rothalbmond-Bewegung (RCRC), internationale NGOs und UN-Organisationen schlagen zusätzlich zu reaktiven humanitären Maßnahmen antizipative Ansätze vor. Schon bevor eine Katastrophe eintritt, sollen auf Basis wissenschaftlicher Vorhersagen und Risikoanalysen Maßnahmen finanziert und ergriffen werden. So können unnötiges Leid verhindert oder vermindert sowie humanitäre Kosten verringert werden.

Ein zentraler Ansatz dafür ist die vorhersagebasierte humanitäre Finanzierung oder „Forecast-based Financing“ (FbF), den das Deutsche Rote Kreuz (DRK) seit 2007 in Kooperation mit dem Auswärtigen Amt und weiteren RCRC-Organisationen entwickelt. Anhand eines zuvor festgelegten Plans werden auf Basis wissenschaftlicher Vorhersagen Gelder freigesetzt, bevor eine Katastrophe eintritt. Dies ermöglicht frühzeitiges Handeln.

Bisher beschränken sich solche Maßnahmen allerdings überwiegend auf hydrometeorologische und klimatologische „Naturkatastrophen“ wie Überschwemmungen, Dürren, Wirbelstürme und Tornados. Konflikte bleiben ausgeklammert, obwohl sie zu den Hauptursachen für humanitäre Krisen gehören. Zudem ereignen sich die meisten Todesfälle durch Katastrophen in Konfliktgebieten und fragilen Staaten. Menschen in Konfliktsituationen sind ohnehin oft vulnerabler und damit auch einem höheren Risiko für klimabedingte Katastrophen ausgesetzt (und umgekehrt). Die Bundesregierung sollte sich deswegen für eine Vertiefung und Ausweitung ihres bestehenden Engagements einsetzen und dabei Konfliktsituationen nicht kategorisch übergehen.

Mehr innovative Ansätze und mehr Akteure – aber das reicht noch nicht aus

Innovative Ansätze zur Finanzierung und Durchführung humanitärer Maßnahmen wie die vorhersagebasierte humanitäre Hilfe sind unerlässlich. Denn insgesamt verschlechterte sich die humanitäre Situation in den letzten Jahren weltweit durch mehr und länger anhaltende Krisen.

FbF hilft, die Folgen der vorhergesagten Katastrophe und damit eine potentielle humanitäre Krise zu verhindern oder zumindest abzuschwächen. Konkret setzen Geldgeber Beträge frei, sobald ein Schwellenwert – z.B. ein Wasserstand, eine Temperatur oder eine Windstärke – mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorhergesagt wird. Schwellenwert, Höhe der Finanzierung und mögliche Aktionen werden vorab in Kooperation mit Geldgebern und nationalen Behörden festgelegt. So hat das DRK in den Philippinen mit seinen Partnern einen Plan für tropische Wirbelstürme entwickelt: Maßnahmen wie vorgezogene Ernten, Evakuierungen von Vieh oder die Verteilung von Materialien zur Befestigung von Häusern werden in besonders vulnerablen Regionen dann ausgelöst, wenn Wettervorhersagen z.B. vom Europäischen Zentrum für mittelfristige Wettervorhersagen (ECMWF) eine komplette Zerstörung von zehn Prozent der Häuser in mindestens drei Gemeinden ankündigen.

Die Zahl und Vielfalt der Akteure, die sich mit FbF und ähnlichen Ansätzen beschäftigen, sind in den letzten Jahren gestiegen. Neben verschiedenen Gremien von RCRC, internationalen NGOs wie Start-Network und der Welthungerhilfe sowie UN-Organisationen wie WFP, FAO, OCHA und der Weltbank, unterstützen auch Universitäten und andere Forschungseinrichtungen, Wetterdienste, zunehmend der Privatsektor und Geberländer wie Deutschland und Großbritannien die Ausweitung des Ansatzes. So hat beispielsweise das Auswärtige Amt die Unterstützung von FbF von 1,8 Millionen Euro im Jahr 2014 auf 7,5 Millionen Euro im Jahr 2019 erhöht. Nichtsdestotrotz ist vorhersagebasierte humanitäre Hilfe gegenwärtig noch weit von einer systemweiten Anwendung entfernt.

Konkrete Schritte zur Ausweitung von FbF: Konfliktsituationen, Kooperation, Kommunikation

Um mehr humanitäre Krisen zu verhindern oder deren Auswirkungen zu verringern, sollte Deutschland als Vordenker im Bereich vorausschauende humanitäre Maßnahmen das Momentum für deren Ausweitung nutzen. Die Bundesregierung ist gut positioniert, bestehende Bemühungen zu vertiefen und auf Konfliktsituationen auszuweiten, um so international mehr Verantwortung zu übernehmen und wichtige neue Akzente zu setzen.

Durch einen „No regrets“-Ansatz sollte die Bundesregierung Maßnahmen unterstützen, die der betroffenen Bevölkerung auch ohne Katastrophe zugutekommen oder die zu einem späteren Zeitpunkt nützlich sein können, beispielsweise wenn Hilfsgüter aufbewahrt und wiederverwendet werden können – diese eventuelle alternative Verwendung sollte zuvor festgelegt werden. Durch regelmäßiges Monitoring und Evaluierungen nach jeder Aktivierung können Finanzierung, Schwellenwerte und Maßnahmen angepasst werden. Gleichzeitig müssen Kosten-Nutzen-Analysen über mehrere Einsätze statt nur über einzelne Maßnahmen gedacht werden. Konkrete nächste Schritte in die folgenden drei Richtungen sind möglich.

1. Eine Vorreiterrolle bei der Ausweitung von FbF in Konfliktsituationen einnehmen:

Die Bundesregierung strebt „eine Ausweitung der vorhersagebasierten humanitären Hilfe auf Konfliktkontexte“ an. Das wird nicht einfach, schon allein weil Konfliktvorhersagen schwierig zu treffen sind. Bisher vernachlässigen humanitäre Akteure konfliktbetroffene Staaten meist für Maßnahmen zur Katastrophenrisikominderung oder „disaster risk reduction“ (DRR), weil die Einsatzorte als zu kompliziert erachtet werden. Außerdem sind Maßnahmen in Konfliktsituationen mit größeren politischen Risiken verbunden als bei „Naturkatastrophen“ in friedlichen Regionen. Die Sorge, dass FbF den Konflikt selbst beeinflusst oder dass die Konfliktparteien die Maßnahmen als Einmischung werten, scheint bisherige Vorstöße auszubremsen.

Dennoch sollte die Bundesregierung humanitäre Akteure in Konfliktsituationen dabei unterstützen, ihre Einsätze Schritt für Schritt mit vorhersagebasierten Maßnahmen zu ergänzen, um Leben und Lebensgrundlagen zu retten. Sowohl bei Vorhersagen einer „Naturkatastrophe“ in einer zusätzlich von einem Konflikt betroffenen Region als auch bei der Vorhersage eines Konflikts und dessen Auswirkungen selbst können Akteure auf bereits vorhandene Ansätze aufbauen.

Im Fall vorhergesagter „Naturkatastrophen“ in bereits bestehenden Konfliktsituationen könnten größtenteils die gleichen Trigger wie für bestehende FbF-Projekte genutzt werden. Maßnahmen müssten konfliktsensibel umgesetzt werden und würden nicht direkt auf die Bedürfnisse reagieren, die sich aus dem Konflikt ergeben. Im Fall vorhergesagter Auswirkungen neuer oder sich verschlimmernder Konflikte könnten humanitäre Akteure auf der jahrzehntelangen Forschung zu Konfliktvorhersagen und auch auf Analysen zur Krisenfrüherkennung innerhalb des Auswärtigen Amts aufbauen, um konkrete Trigger zu bestimmen. Um die politische Neutralität humanitärer Akteure sicherzustellen, könnten die Maßnahmen bewusst auf vorhergesagte Auswirkungen eines potentiellen neuen Konflikts oder einer Konfliktverschärfung abzielen, nicht auf dessen Verhinderung, beispielsweise durch die Bereitstellung medizinischer Materialien für Gewaltopfer oder die Vorbereitung von Unterkünften für durch Kämpfe Vertriebene.

Für eine effektivere und ganzheitlichere Krisenprävention sollten humanitäre Akteure allerdings gemeinsam mit anderen Akteuren im Bereich Frieden und Entwicklung Ansätze entwickeln. Die Bundesregierung sollte als Vorreiterin außerdem mehr Forschung und Pilotstudien zur Implementierung finanzieren, gemeinsam mit dem DRK das Thema Konflikte und FbF aufnehmen und so auch andere Geberländer ermutigen, mehr zu tun.

2. Koordinierungs- und Kooperationslücken schließen:

Mit Ausnahme der Plattformen und Partnerschaften innerhalb des humanitären Sektors besteht bisher sowohl innerhalb und zwischen einzelnen Ressorts als auch international wenig Koordinierung zum Thema FbF. Um auf existierenden Erfahrungen aufzubauen, sollte die Bundesregierung die bestehende Aufmerksamkeit für FbF für den Ausbau nützlicher Kooperationen nutzen.

Erstens sollte das Auswärtige Amt seine eigenen Ressourcen besonders hinsichtlich der verfügbaren Datengrundlage für Maßnahmen bündeln. Dazu sollte es eine referatsübergreifende Arbeitsgruppe zwischen dem Referat für humanitäre Hilfe (S 08) sowie Arbeitseinheiten für die Beobachtung und Analyse von Krisenkontexten wie das PREVIEW-Team für Instrumente und Prozesse in der Krisenfrüherkennung (S 05-9) des Referats für Krisenfrüherkennung, Strategische Vorausschau, Konfliktanalyse und ZIF errichten. Denn in seiner aktuellen Strategie zur humanitären Hilfe setzt sich das Auswärtige Amt selbst zum Ziel, „das Prinzip der vorausschauenden Aktivierung von Maßnahmen der humanitären Hilfe auch auf andere Kontexte [zu] übertragen“ und dafür die Kooperation zwischen unterschiedlichen Referaten zu stärken.

Zweitens sollten das Auswärtige Amt und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ihre Koordinierung und Kommunikation über bereits gesammelte Erfahrungen, Herausforderungen und realistische Ziele verbessern und humanitäre, entwicklungspolitische und Friedensakteure im Rahmen von Diskussionen über den „Triple Nexus“ existierende Methoden und Ansätze zusammenbringen.

Drittens sollte Deutschland mit anderen bereits aktiven Geberländern wie Großbritannien und den Niederlanden, oder auf EU-Ebene mit DG ECHO einen systematischen Austausch über bestehende vorhersagebasierte Finanzierungsmodelle organisieren und Vorausschau gemeinsam planen. Zusammen sollten diese Vorreiter andere EU-Mitgliedstaaten motivieren, die Ausweitung vorausschauender humanitärer Maßnahmen durch flexible Gelder zu finanzieren und Pilotprojekte zu ermöglichen.

Viertens bietet sich der Ansatz auch für einen verstärkten Austausch mit nicht-staatlichen Akteuren an: Die Bundesregierung sollte mehr Forschung finanzieren, implementierende und koordinierende humanitäre Organisationen durch flexible Finanzierung unterstützen und offen sein für öffentlich-private Partnerschaften für innovative Finanzierungsmodelle.

3. Die Vorteile des Ansatzes transparent kommunizieren:

Wie so oft bei Präventionsmaßnahmen, deren Erfolge nicht sichtbar sind, sollte die Bundesregierung ein differenziertes Verständnis des innovativen Ansatzes sicherstellen. Zum einen sollte sie Zweifeln vorbeugen, indem sie entstehende Kosten transparent für den Bundestag begründet. Gerade weil das humanitäre System insgesamt chronisch unterfinanziert ist, besteht die Gefahr einer negativen Reaktion auf die Entscheidung, Gelder bereitzustellen für Katastrophen, die sich eventuell doch nicht materialisieren oder deren Auswirkungen schwächer ausfallen als vorhergesagt. Die Bundesregierung sollte deswegen Datenquellen und -analysen so nachvollziehbar wie möglich machen und verdeutlichen, dass vorhersagebasierte humanitäre Maßnahmen traditionelle reaktive humanitäre Hilfe keineswegs ersetzen, sondern sie im Rahmen der ganzheitlichen Katastrophenrisikominderung ergänzen.

Zum anderen sollte die Bundesregierung für die eigenen Ministerien und ihre Mitarbeiter*innen Anreize schaffen, offen gegenüber solchen Innovationen zu sein. Um das Verständnis und die Unterstützung für FbF sicherzustellen, sollte das Auswärtige Amt regelmäßig Fortbildungen zu Themen wie FbF, Forecasting und Foresight-Methoden anbieten.

Um die Bevölkerung zu erreichen, sollten außerdem Beispiele von FbF über soziale Medien geteilt werden – und zwar sowohl, wenn die Auswirkungen von Katastrophen verringert werden konnten, als auch, wenn Maßnahmen trotz ausbleibender oder abgeschwächter Katastrophe eine unterstützende Wirkung hatten.

Der Artikel basiert auf einem Working Paper, das die Autorin zusammen mit Catalina Jaime (Red Cross Red Crescent Climate Centre) verfasste.

Early Action Finanzierung Humanitäre Hilfe

Marie Wagner

Marie Wagner ist Research Associate am Global Public Policy Institute (GPPi). @MarieWgn