Gemeinsame Vorausschau: Instrument für multilaterales Handeln

28. September 2020   ·   Lars Brozus

Ziel des von Deutschland favorisierten Multilateralismus ist es, die negativen Externalitäten einer vernetzten Welt durch die Kooperation mit verlässlichen Partnern einzuhegen und Politik proaktiv zu gestalten. Gemeinsame Vorausschau kann dabei helfen, Krisen wie auch Chancen frühzeitig zu erkennen und entsprechend zu handeln. Die „Allianz für den Multilateralismus“ sollte diese innovative Methode nutzen.

Die Krise des Multilateralismus manifestiert sich in wiederholten Verstößen zentraler Akteure globaler Politik gegen grundlegende Normen und Regeln staatlichen Handelns auf der internationalen Ebene. Dazu gehören verdeckte militärische Infiltration und illegale Gewaltanwendung, die einseitige Aufkündigung oder Verletzung von Regelwerken mit hoher Bedeutung, und nicht zuletzt die nachlassende Bereitschaft, globale öffentliche Güter zu erbringen oder zu schützen.

Regierungen auf Ego-Trip: Politik im Krisen- statt Gestaltungsmodus  

Die USA haben wegweisende internationale Regelwerke aufgekündigt, etwa im Sicherheits-, Handels- und Klimabereich. China und Russland betreiben eine aggressiv ausgerichtete Territorialpolitik, sei es gegenüber der Ukraine oder im südchinesischen Meer. Der Kreml scheut nicht vor Mordanschlägen auf Regimegegner zurück; Beijing setzt ausländische Staatsangehörige fest, um eigene Bürger freizupressen. Saudi-Arabien lässt einen Dissidenten in der Türkei töten, während die Türkei Geflüchtete zum illegalen Grenzübertritt in die EU ermutigt. Brasilien forciert die Rodung des Regenwalds, um die „Lunge der Welt“ kommerziell zu nutzen. 

Es handelt sich hier nicht um notorische Schurkenstaaten, sondern um Mitglieder der G20 oder gar des UN-Sicherheitsrats, die für sich selbst eine besondere Verantwortung für die Aufrechterhaltung der internationalen Ordnung reklamieren. Kein Wunder also, dass das Misstrauen in der Staatenwelt stetig wächst. Denn je geringer die Bindungskraft von internationalen Regeln ausfällt, desto niedriger wird die Hemmschwelle für nicht abgestimmtes unilaterales Vorgehen. Damit ist vorprogrammiert, dass unerwartete Ereignisse und Entwicklungen häufiger auftreten, so dass der internationale Krisenzyklus permanent in Bewegung bleibt. Politik muss sich auf reaktive Schadensbegrenzung beschränken, während die proaktive Gestaltung von Handlungszielen darunter leidet, dass Aufmerksamkeit und Zeit der Entscheidungsebene vollauf damit ausgelastet sind, das jeweils „Schlimmste“ zu verhüten.  

Mangelnde Zusammenarbeit in der Pandemie: Nicht nur Konnektivitäts- sondern auch Governance-Krise  

Die Corona-Krise verdeutlicht die Problematik von unilateralem Handeln in der vernetzten Welt. Von COVID-19 zunächst wenig betroffene Regionen litten schnell unter den Folgen von andernorts getroffenen Lockdown- und Quarantäneentscheidungen. Der Einbruch von Produktion, Handel und Tourismus, ausgesetzte Mobilität und Kapitalabflüsse trafen vor allem den globalen Süden. Die branchenspezifische Produktionskonzentration an wenigen Standorten verstärkte die Unterversorgung mit Arzneimitteln oder medizinischer Schutzausrüstung auch im globalen Norden. Das Ergebnis: eine veritable Konnektivitätskrise – die negativen Externalitäten der globalen Vernetzung erschüttern Politik, Wirtschaft und Gesellschaft weltweit.  

Multilaterale Institutionen spielen bei der Krisenbearbeitung kaum eine Rolle. Weder die UN noch die G20 und G7 setzten bislang nennenswerte Steuerungsimpulse. Über gesundheitliche Schutzvorkehrungen und ökonomische Hilfsmaßnahmen wird national entschieden, nicht regional oder international koordiniert. Selbst in der EU schlossen sich Grenzen teils ohne Abstimmung. So zieht die Konnektivitätskrise eine Governance-Krise nach sich, wie sich im Vergleich zur internationalen Reaktion auf die Weltfinanzkrise 2008 zeigt. Damals wurde die G20 umgehend auf die Ebene der Staats- und Regierungschefs gehoben. Innerhalb von zwei Jahren fanden fünf Gipfeltreffen statt, auf denen Maßnahmen abgestimmt werden konnten, um die Auswirkungen der Krise einzudämmen. Die zentralen Anliegen von Global Governance, Policy-Information und Policy-Koordinierung, wurden im Rahmen des gemeinsamen Fokus auf Krisenbewältigung vorangetrieben – nicht perfekt, aber durchaus wirksam.

Dem Krisenzyklus entkommen mit gemeinsamer Vorausschau

Um dem Krisenzyklus zu entkommen, der die Aushöhlung der regelbasierten internationalen Ordnung begleitet, sollten kooperationswillige Regierungen in gemeinsame Vorausschau investieren. Staaten betreiben von jeher strategische Planungen auf der Grundlage von Annahmen darüber, was in der Zukunft passieren könnte. Dafür gibt es Planungsämter, Foresight-Prozesse, Datentools zur Krisenfrüherkennung und Zukunftsstudien. Die Krise des Multilateralismus stellt jedoch neue konzeptionelle und praktische Anforderungen an Vorausschau. Und zwar gerade an diejenigen Regierungen, die in funktionaler wie auch normativer Hinsicht davon überzeugt sind, dass mehr Vernetzung und Kooperation notwendig ist, um die ökologischen, politischen und wirtschaftlichen Herausforderungen im Anthropozän nachhaltig meistern zu können.

Staatliche Vorausschau hat die Aufgabe, die Politik darüber zu informieren, mit welchen Ereignissen und Entwicklungen in der Zukunft gerechnet werden sollte. Dabei richtet sich das Interesse primär auf Bedrohungen der nationalen Sicherheit und Wohlfahrt. Dieses beschränkte Blickfeld führt dazu, dass kollektive Herausforderungen für die globale Gemeinschaft politisch zwar nicht unbedingt übersehen werden – dafür sorgt oft das Engagement zivilgesellschaftlicher und wissenschaftlicher Akteure. Aber in die Entscheidungsfindung über Maßnahmen zur Gestaltung der Zukunft fließen deren Anliegen nur als ein Gesichtspunkt unter vielen ein. Da Regierungen ihre Entscheidungen gegenüber der nationalen Bevölkerung rechtfertigen müssen, stehen internationale oder globale Aspekte zudem nicht unbedingt im Fokus.  

Forecasts systematisch nutzen  

Vorausschau bedient sich verschiedener methodischer Ansätze. Eine Variante setzt sich mit den denkbaren Auswirkungen langfristiger Trends auseinander, etwa Digitalisierung, Künstliche Intelligenz oder Umweltveränderungen. Dabei entstehen Foresight-Szenarien, die Entwicklungen über 10, 20 oder gar 50 Jahre hinweg imaginieren. Konkreter fallen Vorhersagen im Rahmen von Forecasts aus. Hier geht es um die Beantwortung von Fragen, die kurzfristig für die internationale Politik relevant sind: Wird es bei den nächsten Bundestagswahlen zu einem Koalitionswechsel kommen? Droht 2021 eine militärische Auseinandersetzung am Persischen Golf? Geht das Wirtschaftswachstum in der Eurozone im nächsten Quartal zurück?  

Forecasts erlauben auch die einfache Überprüfung, ob Vorhersagen eingetroffen sind oder nicht. So lässt sich herausfinden, welche Forecaster überdurchschnittlich häufig richtig liegen. Die Auswertung von über 880.000 Forecasts, die im Rahmen einer wissenschaftlichen Langzeituntersuchung analysiert wurden, ergab, dass etwa zwei Prozent der Forecaster dauerhaft gut abschneiden. Oft handelt es sich dabei nicht um Fachleute, sondern um interessierte Laien, die ihre Einschätzungen systematisch an eine veränderte Informationslage anpassen. Werden diese Forecaster in Teams zusammengefasst, nimmt die Vorhersagepräzision weiter zu – die besten Teams erreichen eine deutlich höhere Genauigkeit als Vergleichsgruppen, die Zugang zu eingestuften Informationen von Nachrichtendiensten haben.  

Erklärt wird dieser Erfolg über eine höhere Diversität, die gute Teams auszeichnet. Unterschiede im Alter, Geschlecht oder im ethnischen, kulturellen, politischen und religiösen Hintergrund reduzieren die „blinden Flecken“ nationaler Vorausschau-Praxis. Für gemeinsame Vorausschau lässt sich daraus lernen, dass auf Multiperspektivität geachtet werden sollte, wenn Teams zusammengestellt werden. Zwar sind auch die besten Teams weit davon entfernt, jedes künftige Ereignis korrekt zu antizipieren. Aber für die Politik wäre es eine enorme Erleichterung, wenn zukunftsorientierte Maßnahmen damit gerechtfertigt werden könnten, dass sie auf der Grundlage der nachweislich besten verfügbaren Vorhersagen getroffen werden. Gerade unpopuläre Maßnahmen ließen sich so überzeugender begründen.  

Gemeinsame Vorausschau hilft, Handlungsprioritäten zu identifizieren  

Da Multiperspektivität zu besseren Forecasts beiträgt, liegt es nahe, einen solchen Prozess länderübergreifend zu konzipieren und dabei auf unterschiedliche Sichtweisen zu achten. Organisieren ließe sich das als Projekt der „Allianz für den Multilateralismus“, die sich durch die Perspektivenvielfalt der beteiligten Staaten auszeichnet. Notwendig wäre erstens die methodische Schulung der Teilnehmenden, die aus den auswärtigen Diensten rekrutiert werden könnten. So entstünde ein Pool an Vorhersage-Spezialisten unter den Diplomatinnen und Diplomaten. Zweitens müssten regelmäßig Befragungen zu denkbaren politischen Ereignissen in der Zukunft durchgeführt werden, die sich online organisieren ließen. Und drittens würden die getätigten Aussagen systematisch ausgewertet, um Herausforderungen und Chancen zu identifizieren, die in der Zukunft relevant werden könnten und politischer Beachtung bedürften. Das Projekt muss jedoch nicht auf Staatsbedienstete beschränkt bleiben. Besonders innovativ wäre es, Akteure der Gesellschaftswelt einzubeziehen, etwa aus Unternehmen, Wissenschaft und NGOs.  

Aus gemeinsamer Vorausschau folgt zwar nicht automatisch kooperatives Handeln. Verlässlichere Zukunftsaussagen, die nachweislich hohen Standards genügen, tragen jedoch dazu bei, die politische Debatte über Handlungsprioritäten zu versachlichen. Ein gut organisierter Prozess erzeugt zudem Verständnis für die unterschiedlichen Sichtweisen und Präferenzen der Beteiligten. Das hilft, Vertrauen zu schaffen – eine wichtige Grundlage für geteilte Lagebeurteilungen und abgestimmte Aktionen.