VN-Friedenseinsätze: Fokus auf das Notwendige, nicht das vermeintlich Machbare

03. Juni 2021   ·   Wibke Hansen, Judith Vorrath

Die Rahmenbedingungen für VN-Friedenseinsätze werden schwieriger. Zunehmend werden kleine zivile Missionen als Zukunftsmodell diskutiert. Wenn der Schutz der Bevölkerung im Vordergrund steht, werden aber auch künftig größere, robuste Einsätze gebraucht. Die Bundesregierung sollte das breite Spektrum der Einsatz-Toolbox unterstützen: konzeptionell, finanziell und personell.

Deutschland ist nicht untätig, wenn es um effiziente, leistungsfähige Friedenseinsätze der Vereinten Nationen geht. Wie in einer Selbstverpflichtung der Leitlinien zu Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedensförderung vorgesehen, unterstützt die Bundesregierung die VN-Reformbemühungen. Zudem tritt sie für die Action for Peacekeeping (A4P)-Initiative des VN-Generalsekretärs ein. Nicht zuletzt hat Deutschland während seiner Zeit im VN-Sicherheitsrat 2019/2020 Impulse zu übergreifenden Debatten geleistet, etwa der stärkeren Verknüpfung von Peacekeeping und Peacebuilding. Berlin hat auch in konkreten Fällen, insbesondere der Transition im Sudan, Akzente gesetzt. Für das VN-System ist Deutschland zudem ein verlässlicher Geber im Bereich Frieden und Sicherheit.

Gleichzeitig bleibt der konkrete personelle Beitrag Deutschlands zu den VN-Einsätzen sehr überschaubar. Zwar ist Deutschland in neun VN-Missionen mit uniformiertem Personal vertreten. Doch nur bei MINUSMA in Mali und UNIFIL im Libanon ist der Beitrag substantiell, bei den übrigen sieben Missionen eher symbolisch. Mit 557 uniformierten Kräften in VN-Einsätzen rangierte Deutschland im März 2021 auf Platz 36 der Polizei- und Truppensteller der VN. Damit ist Deutschland nach Italien, Frankreich und Spanien der viertgrößte europäische Truppensteller im VN-System. Eine Rückkehr der Europäer zum VN-Peacekeeping sieht anders aus.

Ein genauerer Blick in den Umsetzungsbericht der Bundesregierung zu den Leitlinien lässt zudem keine Kehrtwende erkennen. Abgesehen von einer Initiative zur Steigerung der Effizienz von Missionen wie UNIFIL steht das europäische Krisenengagement klar im Vordergrund. Darüber hinaus bleibt die Ertüchtigung von Partnern inklusive des Kapazitätsaufbaus von Regionalorganisationen ein ausdrücklicher Schwerpunkt.

Das mag mit Blick auf das schwierige Fahrwasser, in dem sich VN-Friedensmissionen seit geraumer Zeit befinden, erst einmal plausibel erscheinen. Tatsächlich aber sollte Deutschland seine Ambitionen nicht herunterschrauben, sondern einen gut sortierten Instrumentenkasten aktiv erhalten. Das ist nicht nur eine Frage der Glaubwürdigkeit, sondern notwendig, damit VN-Friedenseinsätze in den sich verändernden Konfliktkontexten ein wirkungsvolles Instrument sein können.

Die vielfachen Herausforderungen heutiger Konflikte erfordern mehr als schlanke Missionen

Besonders die multidimensionalen und ressourcenintensiven Stabilisierungseinsätze stehen zurzeit auf dem Prüfstand. „Transition“ wurde somit im letzten Jahr zum geflügelten Wort in New York, vor allem wenn es um die großen Einsätze in Afrika geht. Gemeint ist hier die Überführung eines Peacekeeping-Einsatzes in eine andere Form der VN-Präsenz im Einsatzland, meist ein ziviles Engagement. Das klingt freundlicher als „Exit“ – und ist in der Tat auch konzeptionell umfassender. Dennoch bedeutet dies den Abzug von Blauhelmen, wie zuletzt der von UNAMID in der sudanesischen Krisenprovinz Darfur – ein Übergang im Eiltempo. Auch die „Transition“ der VN-Einsätze in der Demokratischen Republik Kongo und – vor allem von den USA angestoßen – sogar in Mali wird verstärkt diskutiert.

Anpassungen und Reformen sind zur Effizienzsteigerung der VN-Friedenseinsätze zweifellos notwendig, sie sollten aber nicht allein auf die Verschlankung der Missionen reduziert werden. Denn die Friedenseinsätze der VN stehen vor vielen Herausforderungen. Uneinigkeit im VN-Sicherheitsrat verhindert nicht nur immer wieder klare Antworten auf Konflikte, vor allem in der MENA-Region, sondern lässt bestehende Einsätze mit teilweise geringer politischer Rückendeckung im Regen stehen. Innerstaatliche bewaffnete Konflikte haben dabei zunehmend internationale und transnationale Dimensionen: weitere Staaten sind (in)direkt involviert, terroristische und kriminelle Akteure operieren grenzüberschreitend in Konfliktgebieten. Das wirft für VN-Friedensmissionen, die an ein klar definiertes Einsatzgebiet und Mandat gebunden sind, vielfältige Probleme auf. Die zunehmende Gefährdung von Blauhelmen ist zudem Ausdruck anhaltender Unsicherheit im Einsatzgebiet und expandierender Aufgaben bei der Stabilisierung. Angesichts dieser Herausforderungen werden VN-Missionen kaum erfolgreicher sein, indem sie auf kleine, zivile Präsenzen heruntergestutzt oder durch solche ersetzt werden.

Auch Blauhelme werden weiter gebraucht

Aktuell gibt es bereits 25 politische Missionen bzw. Feldpräsenzen, die vom UN Department of Political and Peacebuilding Affairs geführt werden. Zweifellos muss bei allen Einsatzformen die politische Lösung im Zentrum stehen, doch politische Missionen allein sind kaum für alle Kontexte bewaffneter Konflikte geeignet. Die Grenzen rein ziviler Einsätze werden offensichtlich mit Blick auf eine Mandatsaufgabe, die in den letzten zwei Jahrzehnten an Bedeutung gewonnen hat: der Schutz von Zivilisten (Protection of Civilians/PoC). Der direkte physische Schutz von Zivilisten kann nur von Blauhelmmissionen mit einer Präsenz in der Breite und der entsprechenden Ausstattung und Mandatierung geleistet werden. Für multidimensionale Einsätze ist PoC seit dem ersten Mandat dieser Art in Sierra Leone 1999 zur Standardaufgabe geworden. Absehbar wird sie weiter auf VN-Missionen zukommen. Mitgliedstaaten müssen daher das gesamte Spektrum der Einsatz-Toolbox aktiv erhalten.

Die „Ertüchtigung“ von Regionalorganisationen ist zwar wichtig aber kein unmittelbarer Ersatz für effektive VN-Einsätze. Hoffnungen auf eine stärkere eigenständige Rolle insbesondere der Afrikanischen Union (AU) und ihrer subregionalen Pfeiler bei der Friedenssicherung haben sich bislang kaum erfüllt. AU-Missionen haben zwar wichtige Funktionen übernommen, waren aber mit Ausnahme von AMISOM in Somalia eine Übergangslösung vor Entsendung einer VN-Mission oder einer hybriden Mission im Falle der gerade abziehenden UNAMID im Sudan. In anderen Regionen fehlen den VN zudem schlicht die Partner für den Ansatz des „partnership peacekeeping“ und eine sinnvolle Lastenteilung.

Die genauen Formate sowie die Ausstattung und personelle Zusammensetzung von VN-Friedenseinsätzen müssen sich in erster Linie an den Bedarfen und Bedingungen vor Ort orientieren. Ganz unterschiedliche Kombinationen von Fähigkeiten, Aufgaben und personeller Ausstattung sind denkbar und auch notwendig, um auf veränderte Bedingungen in Konfliktgebieten zu reagieren. Anpassungen nach dem Leitsatz „form follows function“ sind somit sinnvoller als Verschlankung um jeden Preis – sofern sie mit den Kernprinzipien von Peacekeeping wie Unparteilichkeit vereinbar sind.

Deutschland sollte VN-Friedenseinsätze stärken, um Handlungsfähigkeit für eine Bandbreite an Szenarien zu erhalten

Die aktuell schwierige Lage bei den VN, allen voran im VN-Sicherheitsrat, sollte nicht von vorneherein die Debatte über denkbare Optionen für ein Engagement einschränken. Sonst könnte eine VN-Präsenz in einigen Kontexten zum bloßen Alibi werden. Deutsche Politik sollte sich nicht vorrangig am vermeintlich Machbaren orientieren, zumal nur bedingt absehbar ist, was im Einzelfall letztlich durchsetzbar sein wird.

VN-Generalsekretär Guterres hat in seiner Rede vor dem deutschen Bundestag im Dezember 2020 unter anderem das deutsche Engagement mit der Libyen-Initiative, in der Sahelregion und in der Ostukraine hervorgehoben. Was aber, wenn es Fortschritte bei solchen Bemühungen um eine Konfliktlösung gibt und Vereinbarungen abgesichert werden müssen? EU-Einsätze alleine können das nicht leisten, auch nicht das Engagement anderer Regionalorganisationen.

Die Einsatzformate der VN sind nicht einfach ersetzbar – mögen Entscheidungsprozesse innerhalb des Sicherheitsrats noch so mühsam sein. Denn trotz eines stetigen Rückgangs der Personalzahlen sind die VN bei Friedens- und Kriseneinsätzen nach wie vor die größte Entsendeorganisation (80.184 uniformiertes Personal, Stand Ende März 2021). In den verbliebenen 12 Peacekeeping Einsätzen haben die VN auch deutlich mehr uniformiertes Personal als AU, NATO und EU in ihren Einsätzen zusammen. Die überwiegende Mehrheit der Blauhelme ist dabei auf dem afrikanischen Kontinent und in Missionen mit Schutzmandaten eingesetzt.

Die Handlungsfähigkeit des multilateralen Krisenmanagements ist im deutschen sicherheitspolitischen Interesse. Dem trägt der Umsetzungsbericht zu den Leitlinien nicht ausreichend Rechnung, wenn das Vorhalten von Fähigkeiten vorrangig für GSVP- und NATO-Einsätze proklamiert wird, zumal in diesen Kontexten die Bereitschaft zu militärischem Krisenmanagement ebenfalls eher abnimmt.

Die deutsche Politik sollte zum einen Akzente in der Substanz setzen. Neben Themen, die während der Mitgliedschaft im Sicherheitsrat gesetzt wurden wie Menschenrechte, Klima, Rechtsstaatlichkeit und Schutz von Zivilisten geht es dabei um konkrete Reformbemühungen, welche die Anforderungen aktueller bewaffneter Konflikte in den Blick nehmen wie etwa die digitale Transformation des VN-Peacekeeping.

Glaubwürdig sind solche Forderungen und Vorschläge aber vor allem dann, wenn Deutschland zu weiterer Beteiligung im gesamten Spektrum von VN-Einsätzen bereit ist. Es ist nicht akzeptabel, dass die VN seit Jahrzenten auf eine kleine Zahl von Staaten als Haupt-Truppensteller zurückgreifen müssen. Die direkte Beteiligung von westlichen Staaten mit uniformiertem Personal verleiht den Einsätzen Glaubwürdigkeit. Sie ist zudem auch operativ wichtig, gerade mit Blick auf Hochwertfähigkeiten – wie sie Deutschland etwa in Mali bei der Aufklärung bereitgestellt hat – sowie die immer relevanter werdende Bereitstellung von Polizisten. Finanzielle Beiträge werden gerade mit Blick auf die sozio-ökonomischen Auswirkungen der Pandemie weiterhin notwendig und gefordert sein, reichen jedoch nicht aus.

Bei den VN-Friedenseinsätzen wird das ganze Spektrum weiter gebraucht. In der neuen Legislaturperiode wird es daher auch darauf ankommen, politische sowie konzeptionelle Vorstöße deutscher Außenpolitik mit ganz konkreten personellen Beiträgen zu unterfüttern und entsprechende Kapazitäten vorzuhalten.

Vereinte Nationen Friedenseinsätze Stabilisierung

Wibke Hansen

Wibke Hansen ist Leiterin des Bereichs Analyse im Zentrum für internationale Friedenseinsätze (ZIF).

Judith Vorrath

Judith Vorrath ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP).