Führungsfähigkeit: Drei Anzeichen für den Anspruch der neuen Bundesregierung

25. Mai 2021   ·   Ekkehard Brose

Deutschland leistet einen der größten Beiträge zu internationaler Krisenpolitik, ist dabei aber immer noch reaktiv und übervorsichtig. Dass eine neue Bundesregierung das ändern will, ist nicht ausgemacht. Sollte sie wollen, wird sie sich, der Politik und der Gesellschaft Führung beibringen müssen. An drei Punkten wird früh zu erkennen sein, ob sie will – und kann.

Deutschland setzt Maßstäbe im internationalen Krisenmanagement. Es gilt international als verlässlicher, uneigennütziger Vermittler, ist führend in der Stabilisierungspolitik, humanitär engagiert und weltweit eines der großen Geberländer. Ob Bosnien und Herzegowina, die Ukraine, Afghanistan, Syrien, Irak, Mali, Jemen oder Libyen – deutsche Diplomatinnen, Entwicklungshelfer, Polizistinnen und Soldaten sind an so gut wie allen Krisenschauplätzen der Welt im Einsatz. Sie sind hoch willkommen. Und doch fügen sich dieses bemerkenswerte Engagement und mancher Erfolg bis heute nicht zu einer internationalen Führungsrolle Deutschlands in der Krisendiplomatie. Dafür fehlt die belastbare politische Basis in der Heimat. Vielmehr bestimmen Vorsicht und der Rückzug auf den kleinsten innenpolitischen Nenner das deutsche Handeln in Krisen: Nur keinen Ärger in der Partei, Koalition oder Zivilgesellschaft riskieren. Für eine(n) neue(n) Kanzler(in) mit politischem Gestaltungsanspruch und Mut zu Weichenstellungen bietet gerade das Feld der Krisendiplomatie Ansatzpunkte für überfällige Veränderung. Wann, wenn nicht jetzt?

Machbar wäre das. Es häufen sich vor Ende der Legislaturperiode die Vorschläge für Strukturreformen in der Außenpolitik, für bessere Koordinierung und mehr strategische Kohärenz. Häufig wird allerdings übersehen, dass für die Gremienstruktur auch in der Außen- und Sicherheitspolitik gelten sollte: Die Funktion bestimmt die Form. Ausgangspunkt aller Überlegungen zur Optimierung von Strukturen muss deshalb die Frage sein, was jenseits administrativer Effizienzgewinne politisch damit erreicht werden soll. 

Reicht reagieren, um zu regieren?

Hier steht die nächste Bundesregierung – wenn sie denn möchte – vor einer Weichenstellung. Genügt ihr die Fortführung der bisherigen, eher reaktiven oder teilnehmenden Form des Krisenmanagements, so fehlt der politisch zwingende Grund für weitreichende Strukturreformen. 

Selbst bei Bekundung gegenteiliger Absichten bliebe es de facto bei dem in den Krisenleitlinien der Bundesregierung vorgezeichneten Muster: Ressortbesprechungen, von Auswärtigem Amt und Verteidigungsministerium gemeinsam verantwortete Ausgaben für Ertüchtigung, ressortübergreifende Evaluierung größerer Projekte. Die Politiker an der Spitze der Ressorts buhlen derweil mit jeweils eigenen Akzenten um politische Aufmerksamkeit. Großes Engagement der in Krisen eingesetzten Kolleginnen und Kollegen durchsetzt mit Berliner Ressort-Argwohn kennzeichnen den Alltag auf den Ebenen darunter.

Führung würde auch heißen: Weniger Innenpolitik in der Außenpolitik

Man stelle sich demgegenüber eine Bundesregierung vor, die entschlossen nach Führungsverantwortung in der internationalen Krisendiplomatie strebt. Einem Staat wie Deutschland, der anerkannte Krisenarbeit vor Ort und hohe Beiträge in VN und EU leistet und es dabei versteht, spezifische Eigeninteressen hintan zu stellen, öffnen sich zahlreiche Möglichkeiten, steuernd und koordinierend einzuwirken. Allerdings: Die Bundesregierung würde als Partner in Leadership ein anspruchsvolles Feld betreten, das weit weniger Rücksichtnahme auf innenpolitisch-taktische Erwägungen zuließe.

Das ist Deutschland so nicht gewohnt. Afghanistan ist ein Beispiel von vielen. Als es der Bundesregierung 2011 schwierig schien, die Mandatsobergrenze für Afghanistan wie geboten anzuheben, verließen deutsche Soldaten kurzerhand die NATO-Aufklärung AWACS. Deutschland nahm damit in Kauf, die mittelfristige Durchhaltefähigkeit der gesamten Afghanistan-Mission in Frage zu stellen. Ein Staat mit Führungsverantwortung kann sich ein solches Verhalten nicht leisten. Verlässlicher Partner zu sein, erfordert auch, die gesellschaftliche und parlamentarische Unterstützung für den Einsatz militärischer Fähigkeiten im Dienste einer wertegeleiteten Krisendiplomatie zu stärken. Eine Führungsmacht Deutschland wird sich an dieser Stelle keinen blinden Fleck erlauben können. Von internationaler Führungsverantwortung geht ein Kraftfeld mit starken Zwängen aus. Dieser Planungs- und Handlungsdisziplin würde sich auch Deutschland nicht entziehen können. Wer führen will, muss überzeugende, international anschlussfähige Ziele artikulieren, mit einer deutlichen Stimme sprechen und mit gutem Beispiel vorangehen. Er muss selbst in vorderster Linie Lasten tragen und in der Lage sein, notwendige Fähigkeiten beizusteuern, egal ob zivil oder militärisch. Führen bedeutet Bereitschaft zum geteilten Risiko und die Fähigkeit, Entscheidungen zu fällen, manchmal unter großer Unsicherheit. 

Erst der Anspruch, dann die Befähigung

Sollte „internationale Führungsfähigkeit“ in der Außen- und Sicherheitspolitik zum verbindlichen Anspruch an uns selbst werden, dann müssen und werden interne Verfahren und Strukturen Gestalt gewinnen, derer es zur Wahrnehmung dieser Führungsrolle zwingend bedarf. Eine breite Palette von Vorschlägen dafür liegt auf dem Tisch. Sarah Brockmeier bietet im PeaceLab-Blog einen guten Überblick zum aktuellen Stand des Nachdenkens. Ob nun ein gestärkter Bundessicherheitsrat, gemeinsam verwaltete Krisenmittel oder andere ad-hoc Arrangements eingeführt werden, ist nicht beliebig, aber bleibt sekundär gegenüber dem entscheidenden Maßstab und Ziel: der Befähigung zum Partner in Leadership

Wie erkennt der Bürger, wie erkennen Deutschlands Partner, ob eine neue Regierung es ernst meint mit dem Führen wollen? Drei Indikatoren werden darüber frühen Aufschluss geben: Gelingt es dem Kanzler oder der Kanzlerin, erstens, die Minister und Ministerinnen der relevanten Ressorts persönlich in eine regelmäßige krisenpolitische Koordinierung einzubinden? Erhält, zweitens, der vernetzte Ansatz in der Sicherheitspolitik finanzpolitische Zähne, indem nach dem Vorbild der Ertüchtigungsmittel die Verausgabung (eines Teils) von Krisenmitteln vom Konsens der beteiligten Ressorts abhängig gemacht wird? Haben, drittens, Regierung und Regierungsmehrheit im Bundestag den Mut, die Frage des Einsatzes der Bundeswehr im Rahmen internationaler Krisendiplomatie von Fall zu Fall politisch zu entscheiden, um dann aktiv für die verfassungsrechtliche Absicherung der gewollten Lösung einzutreten? Dafür ist die Erkenntnis wichtig, dass der vom Bundesverfassungsgericht beschrittene Weg einer fortschreitenden Auslegung des Grundgesetzes zu Fragen des Auslandseinsatzes der Bundeswehr keinerlei Endpunkt erreicht hat.

Bevor Europa die Sprache der Macht erlernt, muss Deutschland es tun

Führungsverantwortung übernehmen und sich in einen multilateralen Rahmen einordnen sind kein Widerspruch. Der EU-Vertrag bietet in Artikel 44 die Möglichkeit, getragen vom Konsens aller, auch kleinere Gruppen von Mitgliedstaaten mit zivilen oder militärischen Missionen etwa im Rahmen der Terrorismusbekämpfung zu beauftragen. Diese Regelung ist europa- wie sicherheitspolitisch sinnvoll. Deutschland sollte sie aktiv nutzen, zum Beispiel mit eigenen Vorschlägen zu Mali. Wenn Europa die Sprache der Macht erlernen und zur Weltpolitik ertüchtigt werden soll, kann das nur mit einem Deutschland geschehen, das auch hier vorangeht.

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Ekkehard Brose

Ekkehard Brose ist Präsident der Bundesakademie für Sicherheitspolitik. Er war von 2014 bis 2016 Deutscher Botschafter im Irak. Er vertritt hier seine persönliche Meinung. @BAKS_President