Die Schattenseite robuster Friedensmissionen 29. März 2021 · Christoph Harig „Robuste“ Friedensmissionen mit militärischem Gewalteinsatz durch die Vereinten Nationen können den Menschenrechtsschutz in truppenstellenden Staaten untergraben. Die Bundesregierung sollte sich daher für eine strengere Selektion von Truppenstellern und für die striktere Arbeitsteilung zwischen friedenserzwingenden und friedensbewahrenden Maßnahmen einsetzen. Debatten Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern Prioritäten bis 2021 Friedensmissionen der Vereinten Nationen (VN) gehen zum Schutz der Zivilbevölkerung zunehmend „robust“ vor. Alle seit 1999 neu mandatierten multidimensionalen Friedensmissionen erlauben unter Verweis auf Kapitel VII der VN-Charta den militärischen Gewalteinsatz, oftmals mit dem expliziten Ziel der „Stabilisierung“ von Krisenländern. Die Bundesregierung verfolgt in ihren friedenspolitischen Leitlinien einen ganzheitlicheren Ansatz der Stabilisierung, der vor allem auf Prävention und die Verbesserung politischer Rahmenbedingungen setzt. Durch die Unterstützung der Kigali-Prinzipien bekennt sich Deutschland außerdem dazu, Bedrohungen für die Zivilbevölkerung proaktiv zu begegnen und hierzu notfalls militärische Gewalt anzuwenden. In Missionen wie der VN-Stabilisierungsmission in Mali (MINUSMA) verfolgt die Bundeswehr sowohl das Ziel, Schaden von der Zivilbevölkerung abzuwenden, als auch zur Terrorismusbekämpfung beizutragen. Das traditionelle Prinzip der Unparteilichkeit von VN-Missionen wird in Stabilisierungsmissionen untergraben, weil Blauhelme in der Regel an der Seite von Armeen der jeweiligen Gastgeberstaaten in Konflikte eingreifen. Die Priorisierung militärischer Ziele im Rahmen von Stabilisierungsmissionen der VN bringt jedoch eine Reihe unbeabsichtigter Konsequenzen mit sich, die oftmals den eigentlichen Zweck des Menschenrechtsschutzes untergraben. Bei MINUSMA beispielsweise kommt es zu einer Überlappung von friedenserhaltenden und friedenserzwingenden Maßnahmen, was den Schutz der Zivilbevölkerung gefährdet. Das traditionelle Prinzip der Unparteilichkeit von VN-Missionen wird in Stabilisierungsmissionen untergraben, weil Blauhelme in der Regel an der Seite von Armeen der jeweiligen Gastgeberstaaten in Konflikte eingreifen. Da die VN somit als Konfliktpartei gesehen werden, erhöht sich sowohl das Risiko von Attacken auf Blauhelme als auch auf die lokale Zivilbevölkerung, die mit der VN-Mission kooperiert. Blauhelme unterstützen oft jene staatliche Sicherheitskräfte, welche – wie in der Demokratischen Republik Kongo oder in Mali – selbst für massive Menschenrechtsverletzungen verantwortlich sind. Gastgeberregierungen kann es somit gelingen, militärische Operationen gegen Rebellengruppen oder politische Gegner im eigenen Land durch die Präsenz einer VN-Stabilisierungsmission zu legitimieren und gleichzeitig den Schutz der Zivilbevölkerung zu unterwandern. Diese negativen Konsequenzen der gegenwärtigen Mandatierung und Interpretation von Stabilisierungsmissionen sollten bereits Grund genug für ein Umdenken bei der Mandatsvergabe sein. Die unbeabsichtigten Folgen des Trends zu Stabilisierungsmissionen gehen jedoch über die jeweiligen Gastgeberstaaten hinaus: Zunehmend robuste Mandate haben oftmals auch negative Effekte auf jene Staaten, die in einer eindeutigen Arbeitsteilung hauptsächlich für die Umsetzung robuster Mandate verantwortlich sind. Während „westliche“ Staaten ihre Soldaten größtenteils aus VN-Missionen zurückgezogen haben und sich nun auf deren Finanzierung konzentrieren, stellen Länder des „Globalen Südens“ die meisten Truppen. Friedensmissionen als Trainingsfeld für Kampfeinsätze – und Menschenrechtsverletzungen? Truppenstellende Staaten ziehen unterschiedliche und zum Teil höchst problematische Lehren aus dem Trend zu Stabilisierungsmissionen. Traditionelle Friedensmissionen stellten oftmals eine willkommene Einkommensquelle für kleinere Truppensteller dar und boten manchen Staaten die Gelegenheit, ihre Streitkräfte zu entpolitisieren oder von problematischen internen Rollen fernzuhalten. Gerade in nicht-demokratischen Staaten oder Ländern mit problematischen zivil-militärischen Beziehungen droht das Stabilisierungsparadigma aber mögliche positive Nebeneffekte von VN-Friedensmissionen rückgängig zu machen. Staaten wie Brasilien, die in jüngster Vergangenheit nicht in Kriege verwickelt waren, können paradoxerweise Friedensmissionen dazu nutzen, um Kampfeinsatzerfahrung für ihre Truppen zu gewinnen. In einer Studie zu Brasiliens Rolle in der Stabilisierungsmission in Haiti (MINUSTAH) zeigten sich mehrere unvorhergesehene Nebeneffekte des „robust turn“. Staaten wie Brasilien, die in jüngster Vergangenheit nicht in Kriege verwickelt waren, können paradoxerweise Friedensmissionen dazu nutzen, um Kampfeinsatzerfahrung für ihre Truppen zu gewinnen. So begrüßt auch China seit 2013 die Gelegenheit, um in VN-Missionen Material zu testen und Soldat*innen Kampferfahrungen gewinnen zu lassen. Dabei verfolgt China explizit das Ziel, Rückstände gegenüber anderen Streitkräften mit mehr operativer Erfahrung aufzuholen. Aus militärischer Sicht ist dies nachvollziehbar und legitim. Allerdings verfehlen VN-Friedensmissionen ihren Sinn, wenn sie zum Trainingsfeld für Kampfeinsätze werden. Zudem wirft dies die Frage auf, wo und wie Truppensteller die gewonnenen Erfahrungen anwenden. Im brasilianischen Fall geschah dies insbesondere in internen Militäroperationen. Durch die Ähnlichkeit der Aufgaben in Haiti und den in den Jahren 2010-2018 besonders häufigen Einsätzen zur „Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung“ im eigenen Land hat das brasilianische Militär regen Gebrauch der Erfahrungen in MINUSTAH gemacht. Problematisch war hier vor allem, dass Offiziere die vergleichsweise laxen Einsatzregeln in Stabilisierungsmissionen als Maßstab für interne Missionen anlegen wollten. Einflussreiche Offiziere sahen den großen rechtlichen Spielraum in Haiti als Grund für den „Erfolg“ bei der Bekämpfung bewaffneter Gruppen und forderten, außergerichtliche Tötungen durch Soldat*innen auch in brasilianischen Städten zu erlauben. Auch in Südafrika werden Erfahrungen von Soldat*innen in Stabilisierungsmissionen angeführt, um ihre angebliche Eignung für interne Einsätze nachzuweisen. Solche Zusammenhänge sind sicherlich nicht in allen truppenstellenden Ländern zu erwarten. Wenn Stabilisierungsmissionen jedoch zunehmend Counterinsurgency-Missionen ähneln und ein ähnliches Aufgabenprofil wie interne Einsätze aufweisen, werden viele Truppensteller diese Erfahrungen zu Zwecken interner Kriminalitätsbekämpfung nutzen. So können Stabilisierungsmissionen indirekt zu Menschenrechtsverletzungen in truppenstellenden Ländern führen. Wie die Erfahrungen von Streitkräften auf interne Einsätze übertragen werden, hängt nicht zuletzt auch von zivil-militärischen Beziehungen in truppenstellenden Staaten ab. Indiens Streitkräfte beispielsweise spielen eine signifikante Rolle in interner Aufstandsbekämpfung und politischen Konflikten wie in der Kaschmir-Region. Die indische Außenpolitik steht dem „robust turn“ skeptisch gegenüber. Im Gegensatz zu Brasilien werden kaum Erfahrungen aus Stabilisierungsmissionen auf interne Einsätze übertragen. Dies ist auch mit Indiens klar etablierter ziviler Kontrolle über die Streitkräfte zu erklären. Der brasilianische Fall zeigt exemplarisch, wie die Beteiligung an einer Stabilisierungsmission zu einem politischen Erstarken der Streitkräfte beigetragen hat. Während die brasilianische Diplomatie weiterhin traditionelle friedensbewahrende Missionen präferierte, nutzte das Militär seinen politischen Einfluss, um das Land als treibende Kraft des „robust turn“ zu etablieren. Zudem nutzten Militäroffiziere das bei MINUSTAH gewonnene Prestige, um sich noch stärker in die Politik des Landes einzumischen. Dies zeigt wie Stabilisierungsmissionen bereits existierende Probleme in den zivil-militärischen Beziehungen truppenstellender Länder weiter verstärken können. Trennung von Friedensmissionen und Kampfeinsätzen, überlegte Auswahl der Truppe Menschenrechtsschutz durch Stabilisierung hat eine Schattenseite, die bei der Mandatierung von VN-Missionen stärker in Betracht gezogen werden sollte. Der Einsatz militärischer Gewalt zum Schutz der Zivilbevölkerung kann und wird in manchen Fällen notwendig sein. Jedoch hat sich gezeigt, dass eine striktere Arbeitsteilung zwischen friedenserzwingenden und friedensbewahrenden Maßnahmen erfolgsversprechender ist. Insgesamt ist es wichtig, Stabilisierungsmissionen mit robustem Mandat nicht weiter zum Regelfall werden zu lassen. Viele Kapitel VII-Mandate folgen nicht einer an den jeweiligen Konflikten orientierten Mandatsgestaltung, sondern machtpolitischen Überlegungen im VN-Sicherheitsrat. Hier sollte die Bundesregierung auch als nicht-ständiges Mitglied des Sicherheitsrats auf Partnerländer wie Frankreich einwirken, um zu einer Mandatserteilung zurückzukehren, die wieder verstärkt an den Begebenheiten in Konfliktländern orientiert ist und insbesondere die Stärken der VN in friedenserhaltenden Maßnahmen in den Vordergrund stellt. In diesem Sinne sollten jene Bedienstete im VN-Sekretariat unterstützt werden, die auf eine engere Orientierung an die Empfehlungen des HIPPO-Reports drängen. Erfolge zum Schutz der Zivilbevölkerung in VN-Missionen sollten nicht langfristig dazu führen, den Menschenrechtsschutz in truppenstellenden Staaten zu gefährden. Knappe Budgets für Friedensmissionen werden die VN weiterhin vor die Herausforderung stellen, ausreichend Blauhelmsoldat*innen zu finden. Die Stabilisierung von Krisenländern sollte aber in keinem Fall zur Destabilisierung anderer Staaten beitragen. Die gegenwärtige Praxis von Stabilisierung im Rahmen von VN-Missionen mit robustem Mandat schafft problematische Anreize für truppenstellende Staaten und kann unter bestimmten Umständen zu negativen Nebeneffekten führen. Erfolge zum Schutz der Zivilbevölkerung in VN-Missionen sollten nicht langfristig dazu führen, den Menschenrechtsschutz in truppenstellenden Staaten zu gefährden. Die Bundesregierung ist sich bewusst, dass effektives Handeln in fragilen Kontexten mit Risiken verbunden ist. Will sie aber, wie in den Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ dargestellt, „alle Anstrengungen unternehmen, um Risiken und Wirkungen unseres Handelns besser zu antizipieren, zu erkennen und zu steuern“, sollte dieser ganzheitliche Ansatz die Risikoabwägung dringend um eine Analyse truppenstellender Staaten in VN-Missionen erweitern. Die Bundesregierung sollte daher innerhalb der Vereinten Nationen darauf einwirken, Auswahl- und Sicherheitsüberprüfungsprozesse für Truppenkontingente von Stabilisierungsmissionen auch unter erschwerten Bedingungen auszubauen. Dies bedeutet unter Umständen auch, dass Deutschland und andere demokratische Staaten mit klarer ziviler Kontrolle über ihre Streitkräfte verstärkt eigene Truppenkontingente entsenden müssen. Debatten Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern Prioritäten bis 2021 Friedenseinsätze Stabilisierung Menschenrechte Christoph Harig Christoph Harig ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Die Forschung für diesen Beitrag wurde gefördert durch die Deutsche Stiftung Friedensforschung. @c_harig
Podcast PeacebyPeace Folge 7: Wie viel deutsches Engagement in UN-Friedensmissionen? Welchen Mehrwert bringen die Friedensmissionen der Vereinten Nationen und welchen Beitrag sollte Deutschland leisten? Lena Strauß, Forschungsassistentin an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin, fordert in dieser Folge von PeacebyPeace eine Strategie für die deutsche Beteiligung an UN-Friedensmissionen. PeacebyPeace • 01. August 2018
Artikel Mandatsverlängerung ins Ungewisse: Impulse für Deutschlands Engagement in Afghanistan Die Verlängerung des Bundeswehrmandates lässt viele Fragen über die Gestaltung eines langfristigen Engagements für Frieden in Afghanistan offen. Die Bundesregierung sollte sich zukünftig stärker mit europäischen Partnern abstimmen, ein militärisches Engagement im Rahmen einer UN-Friedensmission in Betracht ziehen und zivile Unterstützung in angepasster Form fortsetzen. Magdalena Kirchner • 18. März 2021
Artikel Stabilisierung zwischen Realpolitik und Normativität Eine aktuelle Studie des Zentrums für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) zeigt fünf Gemeinsamkeiten zwischen den Stabilisierungskonzepten der Bundesregierung und ihren wichtigsten internationalen Partnern. In Deutschland liegt noch zu viel Aufmerksamkeit auf Budgetlinien für Stabilisierung und zu wenig darauf, wie Wirkung ressortgemeinsam erzielt werden kann. Andreas Wittkowsky • 06. April 2020