Keine Rechtsstaatlichkeit ohne Rechtspluralismus

24. Januar 2019   ·   Katrin Seidel

Internationale Programme transportieren häufig staatsorientierte Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit. In vielen Kontexten sind jedoch lokales und religiöses Recht bedeutender als staatliches Recht. Die Bundesregierung sollte daher legitime, nichtstaatliche Akteur*innen stärker in ihre Programme einbinden. Interkulturelle Vermittler*innen können dabei helfen, unterschiedliche Rechtsverständnisse zu verhandeln.

Debatten

in Zusammenarbeit mit dem RSF-Hub der Freien Universität Berlin

Rechtsstaatlichkeitsförderung (RSF) ist das leitende Governance-Paradigma auf internationaler Ebene. Internationale Institutionen sollen auf Anfrage von Staaten diese dabei unterstützen, rechtsstaatliche Prinzipien umzusetzen. So steht es in Deklarationen der Vereinten Nationen wie Rule of Law at the National and International Levels von 2012.

Rechtsstaatlichkeit oder Rule of Law ist bei der gleichzeitigen Suche nach dem Umgang mit Pluralität und Ideen von Universalität der Sammelbegriff vielfältiger Ordnungsansprüche geworden. Doch entsprechende Reformen fördern zumeist ganz bestimmte Vorstellungen von Rechtstaatlichkeit. Denn angesichts starker Abhängigkeitsstrukturen wird das Bekenntnis zu rule of law häufig zur Konditionalität von internationaler Finanzierung, wobei globale Diskurse über Entwicklung, Demokratisierung, und Menschenrechte die Beteiligung internationaler Institutionen stark prägen.

Lokales und religiöses Recht häufig bedeutender als staatliches Recht

Doch Rechtsstaatlichkeit muss stets im Kontext der pluralen Rechtswirklichkeit begriffen werden. Hier interagieren globalisierte und fragmentierte Rechtsordnungen. Gleichzeitig verliert der Staat als die wichtigste Bezugsgröße des Rechts zunehmend an Bedeutung. Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit sind tief in den jeweiligen rechtlichen Kulturen weltweit verankert: Je nach Perspektive gibt es unterschiedliche Verständnisse von Staatlichkeit und Recht und es ist stets entscheidend, wer in welchem Kontext über sie spricht.

Lange Zeit war die RSF auf Reformen staatlicher Institutionen und Verfassungsentwicklung fokussiert. Diese Ansätze haben jedoch ignoriert, dass staatliche Akteur*innen häufig nur begrenzte Autorität zur Rechtsformulierung und Rechtsdurchsetzung besitzen. Staatszentrierte Annahmen und Top-Down-Ansätze internationaler RSF-Programme bilden die Realitäten deshalb nur unzureichend ab. In Wirklichkeit tragen häufig nicht-staatliche Akteur*innen – die lokale Zivilgesellschaft, Menschenrechtsaktivist*innen, traditionelle und religiöse Autoritäten – bzw. lokales und/oder religiöses Recht zur Konfliktlösung entscheidend bei.

Aufgrund der enormen Kluft zwischen den Versprechungen und Wirkungen von RSF-Programmen schreiben die Vereinten Nationen 2004 selbstkritisch:

“Too often, the emphasis has been on foreign experts, foreign models and foreign-conceived solutions to the detriment of durable improvements and sustainable capacity. Pre-packaged solutions are ill-advised. […] We must learn better how to respect and support local ownership, local leadership and a local constituency for reform, while […] remaining faithful to UN norms and standards.”

Local Ownership hält Einzug in internationale Regulierungen und Verfassungen

So etablierten sich Ideen lokaler Eigenverantwortung – local ownership. Sie resultierten als gezogene Lehren aus fehlgeleiteten ‘Entwicklungshilfe’-Ansätzen und als Antwort auf die massive Kritik der in den 1980er Jahren verfolgten Strukturanpassungsprogramme insbesondere der Bretton-Woods Institutionen Weltbank, Internationaler Währungsfond (IMF) und dem Allgemeinen Handels- und Zollabkommen (GATT). Das Konzept des Ownership betont, inwieweit lokale Akteur*innen sowohl Planung als auch Umsetzung politischer Prozesse steuern. Als Ausdruck dieses partizipativeren Ansatzes sind mittlerweile Kooperationspartner*innen nicht mehr nur staatliche, sondern auch zivilgesellschaftliche, religiöse und ‚traditionelle‘ Akteur*innen.

Das Konzept ist inzwischen Bestandteil internationaler Regulierungen, die zunehmend lokalen Vorstellungen von Recht und Staatlichkeit mehr Raum gewähren. Beispielsweise erkennt die UN-Deklaration über die Rechte der indigenen Völker lokales Recht der indigenen Gemeinschaften an und räumt das Recht ein, Konflikte entsprechend ihrer rechtlichen Vorstellungen beizulegen. Auch die Basic Principles on the Use of Restorative Justice Programmes in Criminal Matters der UN weisen Wege zur Nutzung konsensbasierter informeller Streitschlichtungsmechanismen (informal justice). Dieses Umdenken zeigt sich auch in dem Justice for the Poor-Programm der Weltbank, welches bestehende lokale Mechanismen der Rechtsdurchsetzung stärken und in staatliche Rechtsstrukturen weiter einbinden soll. Der Umgang mit rechtlicher Pluralität spiegelt sich in zahlreichen Ländern auch zunehmend in der verfassungsrechtlichen Anerkennung von Gewohnheitsrecht und religiösem Recht wider.

Realitätsferne Prämissen und Instrumente überdenken

Trotz internationaler Bekenntnisse zur Einbeziehung von Rechtspluralismus und einer Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Akteur*innen sind diese in der RSF-Projektarbeit noch nicht ausreichend berücksichtigt. Aus Gewohnheit oder aufgrund des institutionellen Aufbaus und besseren Zugangs sind oft staatliche Institutionen weiterhin die Partner erster Wahl.

Hingegen wirft die Arbeit mit unterschiedlichen Interessen und Identitätsansprüchen nichtstaatlicher Akteur*innen Fragen auf wie: Wessen Interessen vertreten sie? Wie können zentrale nichtstaatliche Akteur*innen in den Partnerländern identifiziert und deren soziopolitische Bedeutung bewertet werden? Diese Fragen stellen sich noch verschärft vor dem Hintergrund, dass es häufig international finanzierte, größere lokale Nichtregierungsorganisationen sind, die als Vertretung einer vermeintlichen Zivilgesellschaft eingebunden oder zumindest zur Konsultation geladen werden.

Empirische Studien und Praxiserfahrungen verdeutlichen immer wieder, dass ein technisch-institutionelles RSF-Engagement zu kurz greift. Auch sind Train-and-Equip-Programme bzw. eine ausschließliche Fokussierung auf Capacitiy-Building nicht nachhaltig. Zu häufig basiert RSF-Kooperation auf realitätsfernen Prämissen, auf denen dann Programme entwickelt werden.

Standardisierte Instrumente, wenige Alternativen und risikoscheues Entscheidungsverhalten haben Pfadabhängigkeiten geschaffen. Schnelle Ergebnisse sollen mit Hilfe des sogenannten ‚Projektrechts‘ erzielt werden. Projektrecht bezieht sich auf Rechtssätze, die den Techniken des entwicklungspolitischen Projektmanagements innewohnen und auf einen sozialen Wandel abzielen. Sie sind bei Planung, Konzeption und Durchführung von Projekten wegleitend und können auch während der Implementierungsphase entstehen. Sie folgen den Logiken eines vermeintlich objektiven Verfahrens sowie a priori vorformulierte Prozesse und kollidieren häufig mit staatlichen und/oder nicht-staatlichen Normen in den „Empfängerländer“. Dieses Vorgehen begrenzt die Vielfalt möglicher internationaler Unterstützung und die Fähigkeit, normative Rahmen und Instrumente gegebenenfalls zu überdenken. Die Pfadabhängigkeit verhindert wiederum, dass grundlegende Fragen adressiert werden: Welche Form von Rechtsstaatlichkeit streben lokale Akteur*innen an? Welche Wirkungen hat die RSF in den jeweiligen Kontexten?

Prozessorientierte und kontextsensible RSF-Strategie entwickeln

Ein wirkungsorientiertes RSF-Engagement verlangt Bewusstsein dafür, dass RSF stets von der gesellschaftlichen Ordnung vor Ort abhängig ist. Dementsprechend muss Kontextsensibilität der Ausgangspunkt jeglicher Intervention sein. Die Voraussetzung dafür ist, ein Verständnis für die Wirkungen von ‚guten‘ Praktiken und Projektlogiken zu entwickeln, da eine angemessene Option in einem Kontext eine unangemessene in einem anderen sein kann.

Eine nachhaltige RSF verlangt Bewusstsein und Respekt für Eigenlogiken rechtspluraler Ordnungsdynamiken inklusive deren Einbettung in jeweilige Macht- und Wissensproduktionszusammenhänge. Der spezifische Kontext und das adaptive Vorgehen verhandelnder staatlicher und nicht-staatlicher Akteur*innen verlangen prozessorientierte Ansätze. Deutschland sollte lokale Übersetzungsdynamiken bereits bei der Konzeption ihrer RSF-Strategie berücksichtigen. Was lokale Akteur*innen von den internationalen Instrumenten akzeptieren und als angemessen bewerten, hängt häufig davon ab, ob das Angebot den eigenen politischen Zwecken dient. Insofern sollte sich die Bundesregierung auf lokales Wissen und Expertise einlassen und früh mit lokalen Universitäten, Think Tanks und zivilgesellschaftlichen Akteur*innen zusammenarbeiten. Gleichzeitig sind unabhängige empirische Studien zu den jeweiligen rechtspluralistischen Konstellationen und unterschiedlichen Rechtstaatlichkeitsverständnissen von entscheidender Bedeutung.

Zusammenarbeit lokaler und internationaler Akteur*innen in Balance bringen

Deutschland sollte empirisch legitimierte Akteur*innen dabei einbinden, Dialog zu fördern und interkulturelle Verhandlungsforen zu schaffen. So können tatsächliche lokale politische Konstellation besser berücksichtigt werden. Weiter sollte die Bundesregierung Verfahrensmechanismen, Institutionen und Praktiken stärken und weiterentwickeln, die während normativer Konflikte vermitteln können. Ein Grundbaustein dafür ist, dass interkulturelle Vermittler*innen bzw. Moderator*innen im Einvernehmen mit lokalen Beteiligten einbezogen werden, um unterschiedliche rechtliche Verständnisse zu verhandeln. 

Es gilt eine Balance der Zusammenarbeit zwischen den lokalen und internationalen Akteur*innen durch eine wirkliche Kommunikation auf Augenhöhe zu suchen. Dazu gehört auch, vorgefertigte Standardverfahren zu vermeiden. Bestehende Spannungen zwischen local ownership und internationalen Interventionen können sogar dienlich sein, da sie Verhandlungsräume für unterschiedliche Verständnisse von Rechtsstaatlichkeit eröffnen. Diese Verhandlungsräume können dazu beitragen, bestehende Exklusions- und Inklusionsdynamiken neu zu definieren; nicht zuletzt, da lokale Rechtstaatlichkeitsansätze häufig nicht sehr partizipativ jenseits der jeweiligen politischen Eliten sind. Um jedoch zu vermeiden, dass diese Spannungen aufgrund aufgezwungener Unterstützung verhärten, sollte Deutschland seine RSF-Programme in einer offenen Art und Weise lokal gestalten. Nur ein lokal-basiertes Vorgehen kann berücksichtigen, dass Rechtstaatlichkeit durch plurale Akteurskonstellationen und Praktiken strukturiert und durch Verhandlungen ständig transformiert wird.

Debatten

in Zusammenarbeit mit dem RSF-Hub der Freien Universität Berlin

Rechtsstaatsförderung

Katrin Seidel

Dr. Katrin Seidel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung. Sie arbeitet in der Abteilung „Recht und Ethnologie“.