Rechtsstaatsförderung und Frauenrechte verknüpfen: Beispiel Afghanistan

17. Januar 2019   ·   Bele Grau

Die Bundesregierung sollte Frauenrechte und Rechtsstaatlichkeit gleichzeitig fördern, indem sie Akteur*innen unterstützt und schützt, die sich (1) für eine geschlechtergerechte Gesetzgebung einsetzen, (2) den gesellschaftlichen Prozess der Transformation von Geschlechternormen fördern, und (3) indem sie dazu beiträgt, jene Akteure vor Gericht zu bringen, die die Rechtsstaatlichkeit unterwandern.

Debatten

in Zusammenarbeit mit dem RSF-Hub der Freien Universität Berlin

Viele fragile Staaten sind von Rechtspluralismus geprägt. Oft bietet das staatliche System seiner Bevölkerung weder Schutz und Versorgung noch gerechte Konfliktlösungsmechanismen. So behalten traditionelle und religiöse Normen ihre Relevanz. Diese sind in vielen Fällen nicht mit individuellen Menschenrechten vereinbar, besonders für Frauen und Mädchen. Um dies zu verändern, unterstützt die Bundesregierung bereits die Verankerung von Geschlechtergerechtigkeit in den staatlichen Rechtsnormen. Doch dass dies allein nicht ausreicht, zeigt das Beispiel Afghanistan.

Geschlechtergerechte Gesetzgebung unterstützen

Die afghanische Verfassung von 2004 postuliert gleiche Rechte für Frauen und Männer und birgt damit die Möglichkeit, Geschlechtergerechtigkeit durch spezifische Gesetze zu fördern. Ein Paradebeispiel dafür ist das Gesetz zur Beseitigung von Gewalt gegen Frauen, das erstmals Vergewaltigung als Straftat definiert. Um diese Entwicklung weiter zu fördern, sollte die deutsche Außenpolitik auch künftig staatliche und zivilgesellschaftliche Akteur*innen unterstützen, die sich für geschlechtergerechte Gesetze einsetzen, zum Beispiel für die Reform des Familiengesetzes. Dieses könnte die Rechte von Frauen und Mädchen unter anderem in Bezug auf Kinder- und Zwangsheirat stärken. Das wird jedoch seit Jahren im afghanischen Justizministerium blockiert.

Grundsätzlich gilt: Deutschland sollte sich aufgrund der Ressentiments konservativer Kräfte gegenüber der Internationalen Gemeinschaft mit sichtbaren Aktivitäten zurückhalten. Dennoch kann es eine wichtige Unterstützungsfunktion progressiver Akteur*innen einnehmen – zum Beispiel durch finanzielle Unterstützung, politischen Druck oder der Koordination thematischer Debatten. Dabei sollte die Bundesregierung das inhaltliche und strategische Wissen von Frauenrechtsaktivist*innen, das diese in den politischen Auseinandersetzungen der letzten Jahre sammelten, unbedingt stärker berücksichtigen.

Aktivist*innen, die sich für Geschlechtergerechtigkeit einsetzen, sind unmittelbar gefährdet. Dies ist ihnen bewusst. Hier sollte die deutsche Politik ihrer Verantwortung nachkommen und den Ausbau von Schutzfunktionen unterstützen. Dabei kann sie sich an der von afghanischen Aktivist*innen und der Europäischen Kommission gemeinsam erarbeiteten Strategie für Menschenrechtsverteidiger*innen orientieren. Um Frauen zu schützen, die neue gesellschaftliche Rollen beispielsweise bei Polizei und Militär einnehmen, sollte sie den Aufbau von Beschwerdemechanismen sowie psychosoziale und rechtliche Beratung fördern.

Transformation von Geschlechternormen unterstützen

Soziale Normen sprechen Frauen und Mädchen weniger Eigenständigkeit, Einfluss und Entscheidungskompetenz im Vergleich zu Männern zu. Zudem führten 40 Jahre Krieg zu Traumatisierung und Brutalisierung der Gesellschaft. Männlichkeitsideale setzen den Haushaltsvorstand unter Druck, für Schutz und Versorgung der Familie zu sorgen, was viele Männer aufgrund von Armut und einer zerrütteten Gesellschaftsstruktur nicht erfüllen können.

Eine Basis dieser Geschlechternormen ist die traditionelle Streitbeilegung: Sie orientiert sich nicht an individuellen Rechten. Stattdessen stehen das friedliche Zusammenleben der Haushalte einer Dorfgemeinschaft und deren Schutz und Versorgung im Mittelpunkt. Ein zentraler Wert ist die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit eines Haushaltes, sodass in Fällen häuslicher Gewalt in der Regel nicht interveniert wird: sie gelten als interne Angelegenheiten. Konflikte zwischen Familien werden in der Ratsversammlung verhandelt. Für Frauen und Mädchen bedeutet das Ergebnis häufig eine Einschränkung ihrer Rechte, was zu dauerhaft gewaltsamen Lebensverhältnissen führen kann.

Lokale Akzeptanz der Zentralstaatlichkeit fördern

Soziale Normen verändern sich in langfristigen Prozessen. Seit Jahrzehnten und besonders seit dem Ende des Taliban-Regimes wird ein gesellschaftlicher Diskurs über Frauenrechte kontrovers geführt. Dass Frauen nach dem zentralstaatlichen Rechtssystem Rechte haben, ist heute weitgehend bekannt, und in urbanen Zentren sind ihre Möglichkeiten, diese zu nutzen, deutlich gewachsen. Um die Akzeptanz dieser Rechte landesweit zu erreichen, müssen die staatlichen Gesetze auch auf Dorfebene anwendbar und attraktiv sein. Hierfür sind praktische Lösungen nötig. 

Doch das staatliche Justizsystem wird aufgrund unterschiedlicher Werte, aber auch aufgrund von Korruption und Ineffizienz auf lokaler Ebene weitgehend abgelehnt. Um die Lücke zwischen lokaler und staatlicher Rechtsprechung zu schließen, arbeitet das Justizministerium mit Unterstützung der Internationalen Gemeinschaft daran, Elemente traditioneller Konfliktlösung in die zentralstaatliche Justiz zu integrieren. 

Frauenrechtsaktivist*innen lehnen dies ab: Sie bezweifeln, dass sich die traditionelle Rechtsprechung dahingehend ändern lässt, individuelle Rechte von Frauen zu berücksichtigen. Stattdessen unterstützen sie das Vorhaben des Frauenministeriums, geschlechtergerechte Mediationen, wie sie außergerichtlich bereits von staatlichen und zivilgesellschaftlichen Akteuren durchgeführt werden, zu standardisieren und durch eine Rechtsvorschrift in das staatliche Justizsystem zu integrieren. Deutschland sollte diesen Prozess unterstützen, indem es diese und weitere Initiativen unterstützt, die die staatlichen Gesetze auf die lokale Ebene übersetzen. Dabei sollte es auch kleinere Initiativen der Generation junger Afghan*innen berücksichtigen, die neue Ideen einbringen, um eine Brücke zur Bevölkerung zu schlagen.

Die Macht der Strongmen

Das größte Problem sind jedoch Strongmen, die sich durch ihre Macht sowohl über staatliche als auch traditionelle Normen stellen. Häufig werden sie Warlords genannt - diese Bezeichnung verschleiert jedoch, dass sie heute in staatliche Strukturen eingebunden sind. Sie haben während ihrer langjährigen politischen Vergangenheit massive Kriegsverbrechen verübt. Als Minister, Gouverneure oder Polizeichefs verüben oder vertuschen sie auch heute Verbrechen, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen. So sind Frauen in Haftanstalten sexuellen Übergriffen durch Justiz- oder Sicherheitsbeamte ausgesetzt und Militärkommandeure lassen junge Mädchen entführen, um sie zu vergewaltigen oder zur Zweit- oder Drittfrau zu nehmen.

Die Konsequenzen für den Schutz von Frauenrechten sind fatal: Erstens verhindern die Patronagenetzwerke der Strongmen in den Behörden eine Umsetzung von frauenfreundlichen Gesetzen. Zweitens sinkt die Legitimation der Zentralregierung und mit ihr die Akzeptanz solcher Gesetze in Dorfgemeinschaften kontinuierlich, da diese tagtäglich erfahren, dass die staatlichen Organe nicht in ihrem Interesse handeln. Und drittens befinden sich Frauenrechts-NGOs in einer perfiden Zwickmühle: um sich zu schützen, entscheiden sie sich immer wieder dafür, Überlebende sexualisierter Gewalt nicht zu unterstützen, wenn Strongmen in diesen Fall involviert sind.

Den Transitional Justice-Prozess neu anstoßen

Die Internationale Gemeinschaft verzichtete auf einen Transitional Justice-Prozess zur Aufarbeitung von Kriegsverbrechen und brachte somit fundamentalistische Warlords an die Macht. Das macht sie für diese Entwicklung mitverantwortlich. Deutschland ist also einerseits Förderer von Rechtsstaatlichkeit und Frauenrechten, andererseits trug es dazu bei, positive Entwicklungen wie eine frauenfreundliche Gesetzgebung und die Veränderung von Geschlechternormen ins Leere laufen zu lassen. Um diesen Trend umzukehren, ist ein Neuanstoß eines Transitional Justice-Prozesses notwendig. Neben der unabhängigen Menschenrechtskommission sollten zivilgesellschaftliche Akteur*innen wie die Transitional Justice Coordination Group am Prozess beteiligt sein. Weiterhin sollte die deutsche Regierung beispielsweise gegenüber den USA den Internationalen Strafgerichtshof unterstützen, der derzeit eine Anklageerhebung in Bezug auf Afghanistan prüft.

Erfolge der Strafverfolgung auf nationaler und internationaler Ebene sind nicht garantiert. Jedoch hilft auch hier ein Blick auf die lokale Ebene: Die Legitimität von Autorität, beispielsweise eines Dorfältesten, bemisst sich nicht an formalen Kriterien, sondern daran, wie sich die Machtausübung auf die Situation der Untergebenen auswirkt, und ob deren Belange ernst genommen werden.

Die eigenen Werte ernst nehmen   

Das Beispiel Afghanistan zeigt, dass in fragilen Staaten mit Rechtspluralismus kein Weg an der Förderung zentralstaatlicher geschlechtergerechter Rechtsnormen vorbeiführt, um eine Stärkung von Frauenrechten zu erreichen. Jedoch sollte die Bundesregierung auch zur Umsetzung dieser Normen auf lokaler Ebene beitragen, indem sie den Aushandlungsprozess zwischen den Bedürfnissen der Gemeinschaften und individuellen Frauenrechten fördert. Außerdem sollte sie zivilgesellschaftliche Akteur*innen unterstützen und schützen. Besonders sollte sie deren extensives fachliches und strategisches Wissen berücksichtigen und die Existenz und Kohäsion progressiver Gruppen fördern.

Nicht zuletzt muss die Bundesregierung ihre Werte auch dann ernst nehmen, wenn die eigenen Ziele in Gefahr sind. In Afghanistan schreckte die Internationale Gemeinschaft vor einer strafrechtlichen Verfolgung von Kriegsverbrechen zurück, um eine vermeintliche Stabilität zu erreichen. Dies führte dazu, dass heute die Macht des Stärkeren gilt, was sich direkt auf Frauenrechte sowie Möglichkeiten, diese durchzusetzen, auswirkt.

Debatten

in Zusammenarbeit mit dem RSF-Hub der Freien Universität Berlin

Menschenrechte Frauen Rechtsstaatsförderung

Bele Grau

Bele Grau promoviert am Frankfurter Forschungszentrum Globaler Islam über Frauenrechtsaktivismus in Afghanistan und ist im Vorstand der afghanischen NGO Medica Afghanistan.