Wer nachhaltig sein will, muss nachhalten können

03. April 2019   ·   Stefan Pürner

Rechtstransformation wird in Generationen gemessen, das zeigen die seit Jahrzehnten andauernden Prozesse in ehemals sozialistischen Staaten. Langfristige, aber flexible bilaterale Zusammenarbeit kann dazu am besten beitragen, wenn Sie sich an tatsächlichen Bedarfen orientiert und die heranwachsende Juristengeneration der Partnerstaaten in den Mittelpunkt stellt.

Debatten

in Zusammenarbeit mit dem RSF-Hub der Freien Universität Berlin

Die seit Jahrzehnten andauernde Rechtstransformation in den ehemals sozialistischen Staaten gibt Anlass darüber nachzudenken, weshalb sie noch nicht abgeschlossen ist.

Auf Seiten der Projektpartner ist fehlende Absorptionsfähigkeit, aber auch Reformunwilligkeit trotz politischer Bekundungen des Gegenteils zu nennen. Von ausländischer Seite sind, anders als im Falle Ostdeutschlands, ein Mangel an „Masterplänen“, kontinuierlichen Beratungsangeboten und hinreichenden Analysen des tatsächlichen Bedarfs zu bemängeln. Und schließlich sind politische und nicht zuletzt kriegerische Entwicklungen dafür verantwortlich, dass die Rechtstransformation im postsozialistischen Raum außerhalb Deutschlands erst erhebliche Zeit nach dem Fall der Berliner Mauer einsetzte.

Eine genaue Analyse fördert jedoch auch zutage, dass die zeitlichen Erwartungen der ausländischen Berater wohl mehr als unrealistisch waren.

Neue Gesetze reichen nicht

Ein Grund dafür liegt darin, dass die Transformation im Rechtsbereich mehr erfordert als Änderungen im geschriebenen Recht. Übertriebener Aktionismus kann in diesem Bereich sogar zu vermeidbaren Schwierigkeiten und damit zu zusätzlichen Verzögerungen führen. Beim Erlass neuer Gesetze liegt die Kraft nämlich in der Ruhe. Der alte Satz, man solle (gänzlich) neue Gesetze erst erlassen, wenn man wirklich sicher ist, dass dies tatsächlich notwendig ist, gilt auch in der Rechtstransformation. Zum Beispiel zeigen die heutigen Zivil- und Strafprozessordnungen einiger Westbalkanstaaten, dass die ursprünglichen Gesetze oft das bessere Mittel der Wahl gewesen wären – wenn man sie denn von ihren sozialistischen „Einsprengseln“ befreit und die Praktiker bezüglich bestehender Anwendungsdefizite geschult hätte. Stattdessen wurden gänzlich neue Gesetze mit einer Vielzahl neuer, auch hybrider Regelungen erlassen, die die Praktiker zum vollständigen Umdenken zwingen.

Die Schulung und Weiterbildung der juristischen Praktiker, die die neuen Vorschriften anzuwenden haben (oder, wie einige sagen, „implementieren“), spielen eine bedeutende Rolle. Die notwendige Unterstützung erschöpft sich jedoch nicht darin. Genau besehen ist die Weiterbildung (weniger politisch korrekt könnte man auch sagen: “Umschulung“) der noch aus dem früheren System stammenden Rechtsanwender zwar dringend geboten, aber nur eine Übergangslösung.

Wandel von Rechtsystemen bedeutet grundlegenden Wandel von Gesellschaften

Der “Umbau“ des Rechtssystems bedeutet nämlich nicht weniger als den grundlegenden Wandel ganzer Gesellschaften. Er ist deshalb keine Aufgabe, die innerhalb weniger Jahre bewältigt werden könnte. Erforderlich ist es vielmehr, das gedankliche Erbe in der Gesetzgebung und der Rechtsanwendung auch durch einen Austausch der juristischen Akteure zu überwinden. In den neuen Bundesländern erfolgte dies dadurch, dass man ostdeutsche Juristen durch Westdeutsche ersetzte, die in dem neu einzuführenden System aufgewachsen und ausgebildet waren. In den Transformationsstaaten stehen dagegen keine „Wessis“ zur Verfügung, um die bisherigen „Kader“ zu ersetzen. Statt eines Austausches und „Imports“ von Fachkräften müssen diese erst neu ausgebildet werden.

Um tatsächlich einen selbstragenden Rechtsstaat zu erhalten, ist eine neue Juristengeneration notwendig. Da eine solche kaum durch einen noch aus dem früheren System stammenden Lehrkörper ausgebildet werden kann, müssen noch weitere Zwischenschritte hinzutreten. Realistisch gesehen wird die Rechtstransformation frühestens dann abgeschlossen sein, wenn auf der Richterbank – und davor – die erste Generation sitzt, die von solchen Universitätsdozenten und Praktikern ausgebildet wurde, die ihre eigene Ausbildung nach dem Ende des Sozialismus durchlaufen haben. Diese Ausbildung wiederum darf nichtmehr von sozialistischen Ideen und Lehrkonzepten geprägt gewesen sein. Damit ist als weiterer Zwischenschritt eine umfassende Reform der Juristenausbildung erforderlich. Alles in allem hat man also mit einem Prozess zu tun, der auch von heute an noch etliche Jahre dauern wird.

Mit kurzfristigen Projekten ist es nicht getan

Deshalb muss man sich darauf einstellen, dass langfristige Unterstützung zu leisten ist. Zur Vermeidung überflüssiger Richtungsdiskussionen und hybrider Gesetze, die mehr Probleme aufwerfen als sie lösen sollen, muss diese Unterstützung von Organisationen kommen, die denselben Rechtstraditionen folgen wie die Partnerstaaten.

Zudem zeigt die Erfahrung, dass Rechtstransformation kein linearer Prozess ist. Ob Strafprozessordnung, Einführung des Grundbuches oder des Notariats: In all diesen Bereichen (und in verschiedene weiteren) gibt es Beispiele für – aus kontinental-europäischer Sicht – Fortschritte, die wieder rückgängig gemacht wurden. Deshalb ist es alleine mit der Gesetzgebungsberatung und auch einer anschließenden Aus-und Weiterbildung der juristischen Praktiker nicht getan. Erforderlich ist vielmehr auch ein nachlegislatives Monitoring und Lobbying, um einmal Erreichtes auch dauerhaft zu verfestigen.

Genaue Kenntnis der Partner und ihres Bedarfs

Diese Erkenntnis hat auch Auswirkungen auf die inhaltliche Schwerpunktsetzung bei der internationalen Rechtsberatung und die Konzeption der Maßnahmen: Erforderlich ist insbesondere eine praktische Unterstützung bei der Rechtsanwendung durch Seminare, aber auch Publikationen als „Wissensanker“. Da auch hier steter Tropfen den Stein höhlt, wird diese besser durch langfristig angelegte Formen bilateraler Zusammenarbeit realisiert, für die nicht unbedingt ein großer Mitteleinsatz notwendig ist. Statt großvolumig angelegten, aber zeitlich sehr begrenzten Projekte braucht es die genaue Kenntnis der Partner, ihres Bedarfs und ihres Empfängerhorizonts. Hierbei sollten im Sinne des vielbeschworenen „Ownership“ auch zunehmend Ausbilder aus der heranwachsenden neuen Juristengeneration der Partnerstaaten selbst, die einen Teil ihrer Ausbildung in EU-Mitgliedsstaaten durchlaufen haben, eingebunden werden. 

Mittel der Wahl sollte deshalb eine wohldosierte, langfristige, bilaterale Zusammenarbeit auf Augenhöhe sein, die sich auch den wechselnden Gegebenheiten und den Fortschritten in den Partnerstaaten anpasst. Im Mittelpunkt sollten dabei die Rechtsanwender und insbesondere die angehenden Juristen stehen, die in den kommenden Jahrzehnten die Rechtsentwicklung in ihren Heimatstaaten mitprägen und -gestalten werden.

Debatten

in Zusammenarbeit mit dem RSF-Hub der Freien Universität Berlin

Osteuropa Rechtsstaatsförderung

Stefan Pürner

Dr. Stefan Pürner ist Bereichsleiter Südosteuropa I (Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Nordmazedonien sowie Serbien) bei der Deutschen Stiftung für internationale rechtliche Zusammenarbeit e.V. (IRZ). Der Beitrag stellt seine persönliche Auffassung dar.