Überwindung normativer Barrieren durch Dialog

02. April 2019   ·   Anna von Harnier

Wenn gewisse rechtsstaatliche und menschenrechtliche Prinzipien mit den normativen Vorstellungen einer Gesellschaft kollidieren, entstehen Widerstände gegen ihre Durchsetzung. In solchen Fällen sollten internationale Akteure reformorientierte Verbündete suchen, Dialog auf Augenhöhe führen und auf ein langfristiges Engagement setzen. Für einen grundlegenden Wandel muss in Dekaden gedacht werden.

Debatten

in Zusammenarbeit mit dem RSF-Hub der Freien Universität Berlin

Diskussionen darüber, ob und wie man Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte in normativ, religiös oder ideologisch anders geprägten Staaten fördern sollte, werden häufig kontrovers geführt. Auf völkerrechtlicher Ebene wird die universale Geltung der Menschenrechte kaum mehr in Frage gestellt. Doch die eigentlichen Schwierigkeiten entstehen bei der innerstaatlichen Durchsetzung von Menschenrechten oder rechtsstaatlichen Prinzipien, falls diese mit tradierten Normen, religiösen Überzeugungen und politischen Ideologien im Konflikt stehen. Dann entstehen Widerstände gegen ihre Durchsetzung.

So propagiert die Volksrepublik China einen sozialistischen Rechtsstaat chinesischer Prägung. Mit dem Annex "chinesischer Prägung" rechtfertigt sie Abweichungen von rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Standards, wie der Verfolgung von Menschenrechtsanwälten oder der systematische Unterdrückung der uighurischen Minderheit. Um dieses Vorgehen völkerrechtlich zu legitimieren, knüpft China Bündnisse mit anderen menschenrechtskritischen Regimen. Dieser Widerstand kann aber auch von der Bevölkerung ausgehen. So scheiterte in Afghanistan die Förderung von Frauenrechten u.a. an den traditionell und religiös geprägten Wertvorstellungen in der Bevölkerung. Ohne Rückhalt in der Bevölkerung sind Rechtsreformen kaum möglich, insbesondere wenn diese tief ins Alltagsleben eingreifen.

Politisch-ökonomische Analyse und Partnerschaften mit "Agents of Change"

Warum lokale Eliten Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten ablehnen, liegt häufig auf der Hand. Diese laufen ihren Interessen zuwider, denn sie führen zu Machtverlust oder Wegfall von Einkommensmöglichkeiten. Nur zum Schein begründen diese Akteure ihren Widerstand mit Argumenten der Unvereinbarkeit mit Kultur, Tradition und Religion. Daher kann eine politische Partnerschaft mit diesen Eliten sowohl die Glaubhaftigkeit der internationalen Zusammenarbeit schwächen als auch die bestehenden Machtverhältnisse stärken. Dies ist nicht im Interesse des angestrebten politischen Wandels.

Stattdessen sollten internationale Akteure reformorientierte Verbündete finden. Politisch-ökonomische Analysen als Grundlage der Zusammenarbeit helfen hierbei. Diese müssen sicherstellen, dass die geförderten Lösungsansätze auch tatsächlich im Interesse der betroffenen Bevölkerungsgruppen stehen. Aus diesem Grund sollten betroffene Gruppen auch die Möglichkeit erhalten, für sich selbst zu sprechen und Vorschläge einzubringen. Dadurch können kulturell akzeptierte, durchsetzbare und nachhaltige Lösungsansätze gefunden werden. Die bereits zuvor angesprochene Frauenrechtsförderung in Afghanistan ist ein deutliches Beispiel hierfür. Viele sprechen für afghanische Frauen, seien es internationale Politiker oder Feministinnen aus aller Welt. Aber afghanische Frauen kommen selten zu Wort.

Langfristiges Engagement und Dialog auf Augenhöhe

In jeder Gesellschaft sind Wertvorstellungen, Traditionen und Kultur einem ständigen Wandel unterworfen. Hier können internationale Akteure durch Dialogformate große Fortschritte erreichen. Allerdings ist hierfür ist langfristiges Engagement erforderlich. Doch in der gegenwärtigen, projektgesteuerten Entwicklungszusammenarbeit scheint langfristiges Engagement kaum möglich. Daher muss auch dieses Modell hinterfragt werden. Allein das notwendige Vertrauen zu gewinnen, um einen wirkungsvollen Dialog anzustoßen, braucht mitunter Jahre. Durch verschiedenste kurze und unkoordinierte Interventionen können realistische und seriöse Ziele nicht erreicht werden. Ein komplexes Gesetz kann nicht innerhalb von zwei Jahren gestaltet und umgesetzt werden, insbesondere wenn es eine grundlegende Neuerung herbeiführen soll. Bei der Planung nachhaltiger Rechtsstaatsprojekte muss eher in Dekaden als in Jahren gedacht werden.

Zusätzlich ist auch personelle Konstanz wichtig. In vielen Kulturen sind persönliche Beziehungen auch für die berufliche Zusammenarbeit wichtig. Dies gilt umso mehr, wenn die diskutierten Themen politisch heikel sind. Häufige personelle Wechsel führen daher zu Brüchen in der Projektumsetzung und in der Zusammenarbeit. Ein positives Beispiel ist die Förderung der schulischen und juristischen Ausbildung in Afghanistan. Dadurch existiert eine neue Generation Frauen, die seit 2001 ihre Chance auf Bildung genutzt haben und nun ihren Platz in der Gesellschaft und im Staat fordern. Diese potenziellen Beamtinnen, Richterinnen und Politikerinnen sind nicht bereit, aufzugeben und Afghanistan einfach den Taliban zu überlassen. So werden die Frauenrechte doch gefördert.

Um erfolgreich zu sein, müssen Dialoge über die Grundlagen des Rechts auf Augenhöhe geführt werden. Denn auch Staaten die Deutschland stehen ständig vor neuen Herausforderungen und müssen lernbereit sein. Im Bereich der Digitalisierung der Gerichtsbarkeit ist beispielsweise China der Bundesrepublik weit voraus. Verfahrensbeteiligte können sich online über den Status ihres Verfahrens informieren und Urteile werden in einer online Datenbank veröffentlicht. Gegenseitiges Interesse und Lernbereitschaft sind die Voraussetzung für den Erfolg solcher Projekte.

Einheit der Rechtsordnung und Respekt für kulturell-historisch bedingte Besonderheiten

Eine grundlegende Voraussetzung von Rechtsstaatlichkeit ist, dass die Rechtsordnung einheitlich ist. Deshalb sollten internationale Akteure von standardisierten One-Size-Fits-All-Ansätzen Abstand nehmen. Diese richten meist mehr Schaden als Nutzen an. Sie fügen sich nicht in das bestehende System ein und zerstören die Kohärenz der Rechtsordnung. Ein perfektes Beispiel ist das afghanische Informationsfreiheitsgesetz. Von Experten als „sehr gut“ eingestuft, wirkt es wie ein Fremdkörper im afghanischen Kontext. Es sieht beispielsweise eine schriftliche Antragspflicht vor. Doch die große Anzahl an Analphabeten in Afghanistan stellt ein verheerendes Hindernis dar und führt es daher ad absurdum.

Die internationale Zusammenarbeit muss also mehr Verständnis für kulturelle Besonderheiten aufbringen. Sie muss ihren Blick stärker auf die Funktionsmechanismen von Gesetzen und Rechtsprinzipien, deren Sinn und Zweck sowie deren Umsetzung in einem anderen gesellschaftlichen und kulturellen Umfeld richten.

Ein geeignetes Beispiel ist die Güterabwägung, also das Austarieren unterschiedlicher rechtlich geschützter Interessen. So variiert beispielsweise die Abwägung von Individualrechten im Verhältnis zu Familie und Gemeinschaft von Land zu Land. Auch hier müssen im Dialog die Gründe für potentielle Abweichungen geklärt werden. Internationale Partner müssten überprüfen, ob wirklich andere kulturelle Wertvorstellungen der Grund für eine Abweichung sind oder der Verweis auf die Kultur nur als Feigenblatt zum Erhalt einer arbiträren Situation dient. Für den letzteren Fall sollten sie rechtlich abgrenzen, welche Spielräume in die Interpretation von Menschenrechten bestehen und ab welchem Punkt diese in einem nicht zu tolerierenden Maß überschritten werden. In Extremfällen muss die Aussetzung von Entwicklungszusammenarbeit möglich sein. 

Gleichheit vor dem Gesetz muss auch in der internationalen Zusammenarbeit gelten

Schließlich müssen sich auch Geberstaaten (wie die Bundesregierung) an rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Standards messen lassen. Andernfalls läuft die Entwicklungszusammenarbeit Gefahr, in scheinheiligen Neokolonialismus zu verfallen. Insoweit sollte die Bundesrepublik Deutschland sowohl auf völkerrechtlicher Ebene als auch in der Entwicklungszusammenarbeit deutlich für die Durchsetzung rechtsstaatlicher Prinzipien eintreten – insbesondere für die universelle Geltung der Menschenrechte und die Strafbarkeit völkerrechtlicher Verbrechen.

Eine Möglichkeit hierfür bietet sich erneut aus Afghanistan: Nach 2001 installierte hier die internationale Gemeinschaft ein System, in dem einige der berüchtigtsten Kriegsherren in höchsten Positionen gelangten. Das schwächt die Legitimität der Regierung erheblich. In Afghanistan gab es weder eine gerichtliche Aufarbeitung begangener Gräueltaten noch eine Wahrheitskommission. Ein entsprechender Bericht der Menschenrechtskommission war zu heikel und wurde daher nie veröffentlicht. Der Internationale Strafgerichtshof untersucht die gegenwärtige Situation in Afghanistan, wird aber durch die USA massiv behindert. Die Bundesregierung könnte sich aktiver für Ermittlungen durch den Strafgerichtshof oder eine afghanische Institution einsetzen.  

Doch solange sich die internationale Gemeinschaft nicht an den rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Standards messen lassen will, kann sie auch von anderen Ländern nicht erwarten, Rechtsstaatlichkeit ernst zu nehmen. Dies ist in Kontexten, in denen universale Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit in Frage gestellt werden, von umso größerer Bedeutung. 

Debatten

in Zusammenarbeit mit dem RSF-Hub der Freien Universität Berlin

Afghanistan Menschenrechte Frauen Transitional Justice Rechtsstaatsförderung

Anna von Harnier

Anna von Harnier arbeitet im Bundesministerium der Justiz und für Verbraucherschutz und war zuvor in Afghanistan und der Volksrepublik China für die Max Planck Stiftung für Internationalen Frieden und Rechtsstaatlichkeit sowie die GIZ tätig. Dieser Beitrag gibt ausschließlich ihre persönliche Meinung wieder.