Deutsches Recht: "nicht exportfähig" oder bestens geeignetes Orientierungsrecht?

14. Mai 2019   ·   Stefan Pürner

Das deutsche Recht hat bereits häufig Ländern Orientierung bei der Rechtstransformation gegeben und sollte es auch in Zukunft tun: nicht nur bezüglich des Inhalts, sondern auch hinsichtlich der Konzeption der Juristenausbildung, der Kultur juristischer Literatur, der Technik juristischen Argumentierens. Die Unterstützung darf dabei nicht mit der Verabschiedung neuen Rechts enden.

Debatten

in Zusammenarbeit mit dem RSF-Hub der Freien Universität Berlin

Für Akteure im Bereich der Rechtsstaatsförderung ist es von besonderer Bedeutung, ob und in welcher Weise das eigene nationale Recht bei der Unterstützung der Ausarbeitung neuen Rechts in anderen Staaten herangezogen werden kann.

Von der Antwort auf diese Frage hängt einiges ab: Zum ersten steigt automatisch die Qualität der Beratung, wenn das eigene Recht als Vorbild geeignet wäre, da die Kompetenz im eigenen Recht naturgemäß am höchsten ist. Zum zweiten würde eine weitgehende Übernahme bestehender Modelle erhebliche Ressourcen sparen, da das "Rad nicht neu erfunden" werden müsste. Zum dritten bringt eine Orientierung Vorteile für die sogenannte Implementierung des neuen Rechts, da – gegebenenfalls in angepasster Form – Sekundärquellen wie Rechtsprechung und Literatur, die anhand des "Vorbildrechts" entstanden, genutzt werden könnten, was wiederum die Gesetzesauslegung vorhersehbarer macht.

Rechtstradition und politische Bereitschaft des Partnerstaats bedingen Orientierung

Dennoch gibt es auf die Frage, ob das eigene Recht als Vorbild dienen kann, keine pauschalen und allgemeingültigen Antworten. Nach moderner westlicher Auffassung gibt es im Recht unumstößliche, nicht verhandelbare Grundsätze wie die Menschenrechte. Darüber hinaus ist Recht jedoch das jeweils individuelle Produkt vielfältiger, spezifischer Faktoren. Es gibt bezüglich der zukünftigen Rechtsentwicklung keine "one size fits all"- Lösungen.

Die jeweilige Antwort hängt primär von Umständen in den Adressatenstaaten ab; zuallererst von der dortigen Rechtstradition, aber auch von der politischen Bereitschaft, sich im Sinne einer bestimmten Orientierung beraten zu lassen. Aus dieser Adressatenabhängigkeit einer Antwort folgt übrigens auch, dass man dem deutschen Recht nicht generell die Eignung als wie auch immer geartete Orientierung bei der Rechtsstaatsarbeit absprechen kann, wie Kilian Bälz in seinem Beitrag auf diesem Blog argumentiert.

Beispiele aus der südosteuropäischen Rechtsgeschichte

Ein Blick in die Rechtsgeschichte auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawiens offenbart eine ausgeprägte Orientierung am kontinentaleuropäischen Recht, wobei allerdings die österreichischen und schweizerischen Einflüsse die deutschen überwiegen. Lediglich beispielshaft sollen hier folgende Umstände erwähnt werden:

  • Serbien hat sich bereits 1844 ein Bürgerliches Gesetzbuch gegeben.
  • Auch während der sozialistischen Zeiten orientierte man sich in Jugoslawien bei der Ausarbeitung des Obligationengesetzes am Schweizer und bei der Formulierung von Zivil- und Strafprozessordnung am österreichischen Recht. 
  • Wer das kroatische Gesetz über die Handelsgesellschaften und manche Teile des dortigen Gesetzes über die Arbeit liest, kommt sich vor, als würde er eine kroatische Übersetzung der einschlägigen deutschen Vorschriften in der Hand halten. 
  • Im Laufe der letzten Jahre haben sprichwörtlich hunderte von Deutsch sprechenden Jurastudentinnen und -studenten und junge Juristinnen und Juristen aus jugoslawischen Nachfolgestaaten von der Deutschen Stiftung für internationale rechtliche Zusammenarbeit e.V. (IRZ) ausgerichtete Kurse in deutscher Rechtsterminologie besucht.
  • Viele der dortigen Staaten haben auch nach deutschem Vorbild die Verfassungsbeschwerde eingeführt.
  • Erst im April strahlte das Frühstücksfernsehen in Montenegro sogar einen Beitrag über die Juristenausbildung in Deutschland aus.

Diese Beispiele belegen eindrucksvoll, dass in dieser Region eine Beratung auf kontinentaleuropäischer Basis vor dem Hintergrund des deutschen Rechts, die natürlich auch die Charakteristika der nationalen Rechtstraditionen berücksichtigt, Sinn macht, weil man dort in rechtlichen Dingen durchaus nach Deutschland blickt. Mehr noch: Eine solche Beratung wird in diesen Staaten auch ausdrücklich nachgefragt. Bezüglich der Verfassungsbeschwerde und der erwähnten kroatischen Gesetze ist die – wenn man den Begriff denn gebrauchen will - "Exportfähigkeit" des deutschen Rechts in der Praxis schon belegt.

Ausländische Unterstützung soll und darf jedoch nicht mit der Verabschiedung neuen Rechts enden. Die Unterstützung und der Erfahrungsaustausch bei der Anwendung werden am besten aufgrund langjähriger eigener praktischer Erfahrungen geleistet. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, spricht ebenfalls einiges für eine klare Orientierung an bestehenden Konzepten und wenig für Experimente oder Neukreationen. Für eine solche Orientierung ist das deutsche Recht sicher keine schlechte Wahl. 

Deutsches Recht auch Orientierung für Staaten mit anderer Tradition?

Zumindest für die ehemals jugoslawischen Staaten sollte hinlänglich belegt sein, dass das deutsche Recht sich grundsätzlich als Orientierungsrecht bei der Rechtstransformation eignet. Wie aber sieht es in sonstigen Staaten aus? Heißt es dort: Andere Länder, andere Sitten, andere rechtliche Ausgangssituation, anderes Ergebnis? Oder könnte das deutsche Recht auch in Fällen, in denen bislang keine eindeutige diesbezügliche Orientierung vorliegt, den Ausgangspunkt einer Beratung bei der Rechtstransformation bilden?

Dafür spricht, dass es historisch durchaus Fälle gibt, in denen andersgeartete Rechtsordnungen von einer Orientierung am deutschen Recht profitiert haben, z.B. der Einfluss des Bürgerlichen Gesetzbuchs in so unterschiedlichen Staaten wie Griechenland, Japan oder China oder die Rolle deutscher Juristen, allen voran demjenigen von Ernst Eduard Hirsch, in der Türkei.

Recht von Transformationsstaaten sollte vorhersehbar und legitimiert sein

Dies ist auch wenig überraschend, wenn man die Anforderungen an das sich unter Transformationsbedingungen entwickelnde Recht mit den wesentlichen Merkmalen des deutschen Rechtes vergleicht.

Transformation bedeutet Veränderung. Veränderungen sind aber immer mit Unsicherheiten verbunden. Rechtsunsicherheit jedoch steht im Widerspruch zur Rechtstaatlichkeit. Deshalb muss Recht möglichst vorhersehbar sein. Diese Voraussetzung erfüllt kodifiziertes Recht am besten. Darüber hinaus ist es – anders als die kautelarjuristische Praxis an irgendwelchen Finanzmärkten - auch demokratisch legitimiert. Diese Vorhersehbarkeit wird darüber hinaus noch erhöht, wenn einem bereits existierenden Vorbild gefolgt wird.

Deutsches Recht ist nicht nur kodifiziertes Recht, sondern mit ihm geht auch eine gewisse Rechtskultur einher. Dies reicht von der Konzeption der Juristenausbildung über die Kultur der juristischen Literatur bis hin zur Technik des juristischen Argumentierens und deren Verschriftlichung beispielsweise in gerichtlichen Entscheidungen. Vor allem im letztgenannten Bereich leisten deutsche Gerichte meist mehr als die Gerichte anderer Staaten - auch solcher, die zweifelsohne Rechtsstaaten sind. Dieses zusätzliche Quantum an Begründung ist gerade unter den Bedingungen der Rechtstransformation kein entbehrlicher Luxus, sondern es gewährleistet zusätzliche Transparenz gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern. Diese stehen den Staaten in der Transformation durchaus kritisch gegenüberstehen. Dieser Umstand legt nahe, sich bei der Rechtstransformation an Staaten zu orientieren, die versuchen, sozialstaatlichen Ansprüchen Genüge zu tun und sich nicht lediglich als Hüter des rechtlichen Minimums eines ansonsten sehr freien Wettbewerbs, auch zwischen den Parteien eines Strafprozesses, sehen.

Schulungen für saubere juristische Arbeit durchführen

Wenn bei der Rechtstransformation eine Orientierung am deutschen Recht stattfindet, sollte die Implementierung auch durch entsprechende Schulungen unterstützt werden, die einen weiteren Vorzug des deutschen Rechts vermitteln können: dass die Juristenausbildung in Deutschland eine systematische Herangehensweise an Fragestellungen fördert, die wiederum Voraussetzung jeder sauberen juristischen Arbeit ist. Die Bedeutung der Vermittlung einer systematischen Herangehensweise wird jeder bestätigen können, der schon einmal beobachten konnte, dass manche Gerichte und Richter in Transformationsstaaten dank großzügiger ausländischer Hilfe zwar im IT-Bereich mehr als zufriedenstellend ausgestattet sind, aber nach wie vor ihre Gerichtsverfahren nicht effektiv führen und ihre Entscheidungen nur fragmentarisch begründen. Dies belegt, dass die Fähigkeit zum zielgerichteten systematischen Arbeiten eine conditio sine qua non für einen effektiven Rechtsstaat darstellt, die auch durch modernste Informationstechnik nicht ersetzt werden kann.

Orientierung, keine Eins-zu-eins-Übernahme

Das deutsche Recht ist als Orientierungsrecht bei der Transformation in besonderer Weise geeignet. Diese Eignung besteht auch im Hinblick auf Staaten, die sich in der Vergangenheit nicht an diesem Recht orientiert haben. Es geht dabei keineswegs um einen „Export“ oder eine „Eins-zu-eins-Übernahme“, sondern darum, dass das deutsche Recht in geeigneten Fällen bei der Erarbeitung eines Ausgangsvorschlages helfen kann: In einem gegenseitigen Dialog – in den von deutscher Seite auch eine möglichst umfassende Vorkenntnis von Recht und Gesellschaft des Partners einfließen muss – sollten jeweils adäquate Lösungen erarbeitet werden. Dabei ist aber zu beachten, dass viele allzu sophistische Einzelheiten und organisatorischen Besonderheiten, die sich unter anderen gesellschaftlichen Bedingungen kaum umsetzen lassen, nicht „exportfähig“ sind.

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Rechtsstaatsförderung

Stefan Pürner

Dr. Stefan Pürner ist Bereichsleiter Südosteuropa I (Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Nordmazedonien sowie Serbien) bei der Deutschen Stiftung für internationale rechtliche Zusammenarbeit e.V. (IRZ). Der Beitrag stellt seine persönliche Auffassung dar.