„Wir sollten nicht warten, bis Frauen zu Opfern werden, bevor wir sie unterstützen“

31. März 2020   ·   Passy Mubalama

Die Bundesregierung sollte lokale Organisationen als wichtige politische Partnerinnen für die Förderung von Frauenrechten in der Demokratischen Republik Kongo anerkennen. Dazu muss Deutschland direkte Finanzierungsmöglichkeiten und Unterstützung für präventive Ansätze in der Frauenförderung sicherstellen. Ein Interview mit der Frauenrechtlerin Passy Mubalama.

1. Könnten Sie uns einen Einblick in Ihre Arbeit bei AIDPROFEN geben und erklären, warum Sie die Organisation gegründet haben?

Ich habe die Nichtregierungsorganisation AIDPROFEN im Jahr 2011 gegründet. Zuvor arbeitete ich als Journalistin für mehrere Presseagenturen in Goma [in der Demokratischen Republik Kongo].  Bereits in dieser Rolle war es mir wichtig, über Themen zu sprechen, die Frauen direkt betreffen, und ihnen eine Stimme zu geben. Eines Tages wurde ich in das Vertriebenenlager Mugunga gerufen, um einen Bericht über Frauen zu schreiben, die in der Nacht zuvor Opfer sexueller Gewalt im Lager geworden waren. Die Situation vor Ort schockierte mich sehr. Ich sagte mir, dass ich als Kongolesin diesen Kindern und Frauen helfen müsste. Diese Erfahrung inspirierte mich zur Gründung von AIDPROFEN.

AIDPROFEN war von Anfang an auf die Arbeit für Frauenrechte auf lokaler Ebene ausgelegt. Denn sexuelle Gewalt gegen Frauen im Kongo ist einerseits bis heute mit der Präsenz bewaffneter Gruppen verbunden. Andererseits jedoch sind es auch unsere rückständigen Sitten und Gebräuche, die Gewalt gegen Frauen normalisieren. Aus diesem Grund zielte unser Ansatz bei AIDPROFEN von Anfang an auf Sensibilisierung, politische Bildung zu Menschenrechten und auf Mobilisierung von Gemeinden zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Frauen leiden außerdem nicht nur unter dem bewaffneten Konflikt in der Region, sexueller Gewalt und Diskriminierung, sie sind zudem leider kaum präsent auf der politischen Entscheidungsebene. Es ist daher notwendig, auch darauf hinzuarbeiten, dass mehr Frauen in politischen Institutionen arbeiten. Deshalb hat AIDPROFEN Mentoring- und Coaching-Programme für Frauen in politischen Parteien gestartet, um das Bewusstsein in der Gesellschaft für die politische Beteiligung von Frauen zu stärken.

AIDPROFEN arbeitet hauptsächlich in drei Bereichen: Erstens zu der Beobachtung von Menschenrechtsverletzungen mit besonderem Schwerpunkt auf Frauenrechten; zweitens zu guter Regierungsführung und Demokratie, wo wir das bürgerliche und politische Engagement von Frauen und Jugendlichen im Kampf gegen Ungleichheiten im Kongo stärken; und drittens zur Förderung der Resolutionen 1325 und 1820 der Vereinten Nationen, welche [unter anderem] die politische Beteiligung von Frauen in Entscheidungsgremien und bei der Friedensförderung schützen.

2. Wie würden Sie die aktuelle Situation für Frauen und Mädchen im Kongo beschreiben? Was sind dort die größten Herausforderungen für die Sicherheit von Frauen?

Es gab in den letzten Jahren einige Fortschritte, denn immer mehr Frauen wird bewusst, dass auch sie sich in Politik und Gesellschaft einbringen können. Das ist wichtig. Kongolesische Frauen sind nicht nur Opfer. Sie sind auch sehr starke Frauen, die jeden Tag zur Weiterentwicklung ihres Landes beitragen, und es ist wichtig, diese positiven Seiten aufzuzeigen. Allerdings sind sowohl der Zugang zur Politik als auch die Sicherheit von Frauen trotz dieser Fortschritte immer noch ein großes Problem. In ländlichen Gebieten gibt es viele Frauen, die nach wie vor Opfer sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt sind. Dies ist insbesondere der Fall in den Gebieten, in denen es noch immer bewaffnete Gruppen gibt. Im ganzen Land gibt es derzeit mehr als 80 oder 90 bewaffnete Gruppen, die für viele verschiedene Verletzungen der Frauenrechte verantwortlich sind, darunter Vergewaltigung, Entführung von Frauen, Missbrauch, sexuelle Sklaverei und viele andere schreckliche Formen.

3. Kann die UN-Sicherheitsratsresolution 1325 Ihrer Meinung nach der Komplexität des Konflikts im Kongo gerecht werden? Liegt das Problem hauptsächlich bei den verschiedenen Resolutionen oder in deren Umsetzung?

Kongo hat all diese Texte auf internationaler Ebene längst ratifiziert, einschließlich der Resolution 1325, aber leider bleiben sie alle theoretisch. In der Praxis, im täglichen Leben der Frauen kommen die UN-Resolutionen nicht zum Tragen. Vielleicht gibt es einige Frauen, die wissen, dass die Resolution 1325 existiert. Aber wie viele kennen den Inhalt? Und wie stellt die kongolesische Regierung sicher, dass diese Resolution umgesetzt wird, die Frauen und ihre Beteiligung am Friedensprozess schützt? Diese Umsetzung ist eine Arbeit, die jeden Tag weitergeht.

4. Wie bewerten Sie die internationalen Bemühungen, Gender-Fragen in der Programmierung und Unterstützung von Projekten im Kongo einzubeziehen?

Ich denke, dass die Unterstützung der internationalen Gemeinschaft für die Umsetzung all dieser Resolutionen sehr groß ist, insbesondere die Unterstützung für die [kongolesische] Regierung. Aber wir wissen alle, vor welchen Herausforderungen der Kongo steht. Die politische Beteiligung von Frauen ist immer noch sehr niedrig, obwohl wir jetzt drei Wahlen hatten. Manchmal fragen wir uns, wozu all das Geld gut sein soll, das zur Unterstützung der Regierung in diesem Prozess ausgegeben wird. Kommt die Finanzierung wirklich in den Gemeinden an, für die sie bestimmt ist? Es gibt zum Beispiel viele Geber, die sich für die Bekämpfung sexueller Gewalt engagieren. Aber es wird nur sehr wenig in die Prävention und die Aufklärung von Frauen in Bezug auf ihre politischen Rechte investiert. Das ist falsch: Wir sollten nicht warten, bis Frauen zu Opfern werden, bevor wir sie unterstützen. Im Gegenteil, Frauen sollten darauf vorbereitet sein, wie sie im Fall eines Konfliktes reagieren können. Denn die Situation in den entsprechenden Gebieten verbessert sich nicht und die Unsicherheit der Frauen besteht weiterhin.

5. Glauben Sie, dass die finanzielle Unterstützung durch internationale Akteure geschlechtssensibel strukturiert ist? Ist das deutsche Engagement wirksam?

Der Staatshaushalt der kongolesischen Regierung sieht keine spezifische Finanzierung für Gender-Fragen vor. Es gibt zwar ein Ministerium für Geschlecht, Familie und Kinder. Bei den Haushaltsverhandlungen im Kongo werden aber trotzdem keine Gender-Aspekte berücksichtigt. Die Geschlechterfrage wird in verschiedenen anderen Bereichen als Querschnittsaufgabe gesehen, während sie meiner Meinung nach einen eigenen Platz in der Finanzierung einnehmen sollte.

Verschiedene internationale Geber, auch die deutsche Regierung, haben sich verpflichtet, die kongolesische Regierung zu unterstützen. Große Geber finanzieren jedoch keine kleinen zivilgesellschaftlichen Organisationen, zumindest nicht direkt, die sich in dem Umfeld befinden, in dem Frauen wirklich betroffen sind. Sie geben ihnen keine Finanzierung! Das Geld wird entweder an die Regierung oder an einige große internationale Organisationen gegeben. Aber die Zivilgesellschaft, die lokalen Organisationen sind diejenigen, die all die Realitäten und verschiedenen Probleme erleben, mit denen auch die betroffenen Frauen konfrontiert sind. Für mich wäre eine Begleitung dieser Organisationen wünschenswert – natürlich in Absprache mit der Regierung, die eigentlich für die Sicherheit ihrer Bevölkerung sorgen muss.

6. Warum geht die Finanzierung nicht direkt an die Zivilgesellschaft und kleine Organisationen?

Die Logik dahinter ist die Sorge, dass kleine Organisationen nicht über alle notwendigen Fähigkeiten im Bereich des Finanzmanagements verfügen. Die Spender befürchten, dass kleine, lokale Organisationen nie in der Lage sein werden, Millionen zu verwalten, oder dass sie Gelder veruntreuen könnten. Aber eigentlich ist dieses Risiko doch immer gleich hoch. Wenn man die Zivilgesellschaft stärken will, dann muss man versuchen, Vertrauen aufzubauen. Ich bin sicher, dass es unter den zivilgesellschaftlichen Organisationen wirklich glaubwürdige Organisationen gibt, die niemals Gelder veruntreuen würden, sondern den von Konflikten betroffenen Frauen helfen und sie begleiten wollen. Ich denke, dass wir die Zivilgesellschaft stärken müssen, die lokalen Organisationen, die dauerhaft in den Kommunen arbeiten.

7. Deutschland ist dabei, einen neuen nationalen Aktionsplan für die Agenda Frauen, Frieden und Sicherheit zu entwerfen. Welche Aspekte sollten Ihrer Meinung nach integriert werden? Wie könnten der Kongo und insbesondere AIDPROFEN stärker davon profitieren?

Ich denke, dieser neue Plan sollte die spezifischen Bedürfnisse von Frauen in ihren verschiedenen Kontexten berücksichtigen.

Zunächst einmal sollte sich die Bundesregierung auf das Fachwissen der lokalen Organisationen stützen. Es werden nicht die internationalen Organisationen sein, welche die Dinge im Kongo ändern. Es ist die kongolesische Bevölkerung, insbesondere die Zivilgesellschaft, die eine wichtige Rolle für die Förderung von Frauenrechten spielen wird, einschließlich der Umsetzung der Resolution 1325. Als Zivilgesellschaft wollen wir deshalb von den verschiedenen Gebern und anderen Partnern unterstützt werden. Hinzu kommt, dass selbst wenn die Mittel vorhanden sind, der Zugang zu ihnen für lokale und nationale Organisationen oft begrenzt ist. Ich hoffe, dass diese neue Strategie nationale zivilgesellschaftliche Organisationen als wichtige Akteurinnen der Förderung der verschiedenen Resolutionen anerkennt und als politische Partnerinnen behandelt.

Zweitens haben wir erkannt, dass uns die Arbeit in sehr allgemeinem Formaten (wie z.B. Schulungen in Klassenräumen) bei AIDPROFEN nicht nützt, wenn es darum geht, dass Frauen sich gemeinsam organisieren und ihre Stimme erheben. Um erfolgreich zu sein, müssen wir andere, innovativere Wege finden, diese Frauen zu erreichen. AIDPROFEN richtet deshalb verschiedene Foren zur Begleitung von Frauen ein.

Drittens gilt es, nicht zu vergessen, dass wir als Frauenrechtsaktivisten bei der Umsetzung unserer Arbeit häufig in sehr unsicheren Situationen sind. Ich glaube, wir vergessen oft die Schwierigkeiten, mit denen wir als Akteure des Wandels täglich konfrontiert sind, zum Beispiel auf psychologischer Ebene. Es ist deshalb wichtig, Frauen und ebenso auch diejenigen, die ihre Rechte verteidigen wollen, zu begleiten und ihre Sicherheit zu gewährleisten, insbesondere in den Gebieten des Kongo, die nicht sicher sind.

8. Was ist Ihr Traum für die Zukunft des Kongo?

Ich habe mehrere Träume für den Kongo, für mich, für die Zukunft. Mein großer Traum ist, dass wir eines Tages in Frieden leben können. Dass der Kongo ein Land ist, in dem die Menschen in Frieden leben und von den immensen Ressourcen des Landes profitieren können, von denen wir wegen der Konflikte in der Region leider nichts mitbekommen. Für mich sind Frauen eine treibende Kraft für den Wandel und die Weiterentwicklung des Kongo. Ich hoffe, dass durch all unsere Arbeit eines Tages der von uns angestrebte Wandel zustande kommt. Wir werden das allerdings nicht allein können: Ich glaube stark an die Zusammenarbeit in Synergien. Es braucht nicht nur uns Frauen, sondern auch Männer. Männer sind im Kongo häufig der Grund für die Gewalt, der Frauen ausgesetzt sind. Ich glaube aber auch, dass Männer wichtige Akteure sind, mit denen wir zusammenarbeiten müssen, damit die von uns gewünschten Veränderungen eines Tages auch tatsächlich eintreten können. Und wenn der Frieden wiederhergestellt werden kann, wird dies meiner Meinung nach ein großer Schritt sein für die Achtung der Menschenrechte und insbesondere die Rechte der Frauen.

Das Interview führten Julia Friedrich und Marie Wagner am 12.03.2020. Dies ist eine gekürzte Version. Eine französische Version ist ebenfalls auf dem Blog veröffentlicht.

Redaktion und Übersetzung aus dem Französischen: Julia Friedrich und Marie Wagner.

Zivilgesellschaft Menschenrechte Frauen

Passy Mubalama

Passy Mubalama ist eine demokratische und feministische Aktivistin. Als Gründerin und Geschäftsführerin von AIDPROFEN kämpft sie für Demokratie, bürgerliche und politische Rechte von Frauen, gute Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit in der Demokratischen Republik Kongo und anderswo. Sie wurde 2020 mit dem „Women of Distinction“-Preis der NGO Commission on the Status of Women (CSW) ausgezeichnet. (@PassyMubalama; @aidprofenasbl)