Burkina Faso und Sahel erfordern neue Dimensionen des Engagements von der Bundesregierung

16. Juni 2020   ·   Helmut Asche

Die bisherige europäische Politik in der Sahel-Region ist gescheitert. Ein neues Papier aus der Vereinigung für Afrikawissenschaften in Deutschland fordert von der Bundesregierung, sich insbesondere in Burkina Faso finanziell, personell und politisch so umfassend zu engagieren, dass das Schlüsselland in der Sahel-Region den erdrückenden Herausforderungen standhalten kann.

Beurteilungen der Lage in Afrika haben ihre langen Wellen, mit teils extremen Hochs und Tiefs. Wenn es eine ganze Subregion gibt, über die schon lange kein Urteil des Typs „Africa Rising“ mehr abgegeben wird und keine „Gazelle“ den asiatischen „Tigern“ nachjagt, dann sind es die Sahel-Länder. Das war schon vor Corona so. Ein seltener analytischer Konsens  eint Experten und Fachjournalisten in ihrer extrem kritischen Sicht auf die Lage in Mali, Burkina Faso, Niger und Tschad. Die Perspektive „Sahelistan“, also eines Staatszerfalls unter dem Druck des islamistischen Terrors, erscheint als realistisches Worst-Case Szenario – eine Abwärtsspirale, die soziale Kohäsion endgültig auflöst, öffentliche Dienste vollends zum Erliegen bringt, Grenzen zerstört und Staaten in Einflusszonen zerlegt. Die bisherige Strategie der zivil-militärischen Kooperation löst keines der Probleme – darüber herrscht Experten-Konsens.

Die klassische Entwicklungshilfe in Burkina Faso kann kaum mehr arbeiten

Kontroversen gibt es über eine Reihe strategisch vor- und nachgeordneter Fragen: die Rolle innerer und äußerer Faktoren; Wirkungen der UN-Mission MINUSMA oder der EU-Trainingsmission EUTM; Für und Wider eines Abzugs der französischen und internationalen Truppen; Failed States im Sahel – schon als Realität oder noch als Perspektive; Nationale Dialoge und Friedensabkommen: mit welchen bewaffneten Gruppen reden; Einschätzung der lokalen Milizen (Koglweogo, Dozo); Einfluss von COVID-19, um einige dieser Fragen zu nennen. Artikel auf dem Peacelab-Blog spiegeln all diese Fragen.

Ein neues Papier aus der Vereinigung für Afrikawissenschaften in Deutschland (VAD) greift den analytischen Grundkonsens und einige der kritischen Fragen auf und spitzt sie am Fall Burkina Faso zu, da Burkina Faso als letztes Glied in dem Sperrriegel gilt, der das Vordringen des islamistischen Terrors in die Küstenländer verhindert. In Burkina ist das staatliche Gewaltmonopol nicht nur im Norden und Osten zusammengebrochen, sondern überall bedroht. Sehr wenige öffentliche Dienste funktionieren noch. Ob die klassische Entwicklungshilfe etwas Nachhaltiges, besonders im sogenannten „Capacity Building“, schafft und was davon unter den Bedingungen einer Staatskrise erhalten bleibt, ist vollkommen unklar. In weiten Landesteilen kann sie gar nicht mehr arbeiten. Die fabelhafte Idee, die zivil-militärische Vernetzung nun zunächst an ‚gesicherten‘ Plätzen, also in klassischen Wehrdörfern, umzusetzen, kommt einem Eingeständnis des Scheiterns gleich.

Der vernetzte Ansatz ist keine Antwort auf das bisherige Scheitern

Westliche Militärs geben der Auseinandersetzung teils offen, teils verdeckt eine Fristigkeit von einem Jahr, bis das Scharnier Burkina bricht, oder von 10-30 Jahren bis zur erfolgreichen Beendigung der Konflikte. Die Perspektive, auf einer solchen Zeitschiene an der Seite von Armeen zu kämpfen, die in großen Teilen ineffizient, korrupt und ethnisch repressiv gegenüber Teilen der eigenen Bevölkerung sind, müsste sich für die europäischen Partner eigentlich ausschließen. Der Verweis auf den sogenannten vernetzten Ansatz, also den „security-development nexus“, verfehlt erstens wesentliche Teile dieser Kritik und ist zweitens hilflos, da diese Vernetzung nach einhelliger Einschätzung in den vorliegenden Analysen (siehe u.a. die im Papier zitierten Quellen) schlicht nicht funktioniert. Eine Stärkung dieses Ansatzes, hinter der weitestgehend ohnehin nichts anderes als mehr konventionelle Entwicklungshilfe steckt, ist offensichtlich keine Lösung.

Die Krise in den Sahelländern hat mittlerweile ihren eigenen, für die Politikwissenschaft nicht unbekannten, „Spatial Turn“ generiert: Eine Rekonfiguration der politischen Landkarte ist in vollem Gange. Staatsgrenzen werden fluide zugunsten von variierenden Einfluss-Sphären, die von bewaffneten Gruppen und ihren Koalitionen kontrolliert werden. Sie definieren jetzt ihre eigene Regierungsführung und politische Ökonomie. In der Konsequenz finden wir hier informelle, militante Formen der Regionalintegration, darunter die Beherrschung von Handelsströmen durch bewaffnete Gruppen, die mit den von der westlichen Entwicklungshilfe lange geförderten wirtschaftlichen Regionalgemeinschaften oder dem neuen Großvorhaben einer panafrikanischen Freihandelszone nichts mehr zu tun haben. In einigen Lagern wird die neue Territorialität in der „longue durée“ der ethnisch-religiös konfigurierten vorkolonialen Reiche gesehen, was die Sache nicht einfacher macht. Im Innern von Burkina oder Mali steht dem trotz einst ambitionierter, international unterstützter Programme kein gesellschaftlich anerkanntes Projekt der Dezentralisierung mehr gegenüber. Dezentralisierung muss neu erfunden werden, ebenso wie die grenzüberschreitende Regionalintegration.

Erforderlich ist eine ganz neue Dimension des Engagements der Bundesregierung

In dieser Lage ist die sogenannte „Sahel fatigue“ für Regierungen oder Parlamente im Westen ebenso wenig eine Entschuldigung für die Fortsetzung gehabter Politiken, wie es „climate fatigue“ gegenüber den Herausforderungen des Klimawandels wäre. Die Fortschreibung einer scheiternden Politik ist auch durch Einfügung aller aktuellen Buzzwords nicht zu rechtfertigen. Frankreich ist in seiner aktuellen Rolle als alleiniger Führungsmacht klar überfordert.

Das zitierte Konzept plädiert für ein außerordentliches Engagement der Bundesrepublik Deutschland, das – international abgestimmt – finanziell, personell und politisch so umfassende Hilfe leistet, dass das Schlüsselland Burkina Faso den erdrückenden Herausforderungen tatsächlich standhalten kann. Das Konzeptpapier umreißt ein Maßnahmenpaket, das den Rahmen jeden bisherigen deutschen Engagements sprengt (Variante „Whatever it takes“), um an der Seite nationaler und internationaler Akteure eine tragfähige und abgesicherte Gesamtlösung für die Existenzkrise des Landes zu finden – eine Garantie für die Durchfinanzierung und Umsetzung genau der flächendeckenden Prioritäten zu geben, die die burkinische Gesellschaft definieren soll. Ein solcher multidimensionaler Einsatz erfordert auch auf deutscher Seite eine völlig neue Form der operativen Koordination – den praktischen whole-of-government-approach, der in diesem Blog schon gefordert worden ist.    

Genauer gesagt handelt es sich nicht um ein festes Maßnahmenpaket, sondern um einen gemeinsamen Findungsprozess, denn nichts davon ist in Stein gemeißelt, weil es von der Prioritätensetzung der Stakeholder in Burkina selbst abhängen soll, was in der Fläche umzusetzen ist. Der Abgeordnete Kekeritz schlägt zum Beispiel breite Cash-Transfer-Programme für die entwurzelten Familien und Jugendlichen im Norden und Osten des Landes vor, ob nun konditioniert oder unkonditioniert – im Kern eine Art Grundeinkommen auf Zeit. Das Papier selbst spricht von flächendeckenden Arbeitsbeschaffungsprogrammen, die in Burkina seit der Regierung Sankara eine gewisse Tradition haben. Denkbar ist das heute unter anderem im Rahmen des Green-Wall-Programms zur ökologischen Stabilisierung des Sahel. All das ist kombinierbar und re-kombinierbar, aber in keinem Fall identisch mit klassischen Einzelprojekten oder gar mit einer Myriade agrarischer Mikroprojekte.

Gemessen an den beschriebenen strategischen Herausforderungen greifen die rezenten – in Einzelfragen durchaus (selbst)kritischen – Stellungnahmen der Bundesregierung und exemplarisch der CDU/CSU-Fraktion zum Sahel bei weitem zu kurz und sind in ihrer Betonung des „Weiter-So und Mehr-Davon“ in einem vernetzten Ansatz, der keiner ist, geradezu surrealistisch. Die Autoren aus der VAD plädieren dagegen für eine ganz neue Debatte im Sahel wie in den westlichen Hauptstädten – und so auch in Berlin.

Massive Konditionalität, juristische Nachverfolgung von Massakern, regionale Sanktionsmechanismen 

Unmittelbar stehen Entscheidungen über die Verlängerung, Verstärkung und Ausdehnung der militärischen Einsätze an. Diese müssen an eine ganz andere, massive Konditionalität gebunden werden, deren Umsetzung klar befristet und vorab sanktionsbewehrt ist, um noch vertretbar zu sein. Vorschläge für einen solchen Forderungskatalog lassen sich aus den vorliegenden Berichten, wie die im Papier der VAD zitierten, relativ leicht herleiten:

Auf militärischer Ebene ist das eine rigorose Finanzkontrolle der Militäretats, im – angenommenen – Eigeninteresse der Staatsführungen an transparentem Ausgabeverhalten; durchgreifende Strukturreform des Militärs; Verbleib- und Einsatz-Dokumentation der von EUTM trainierten Soldaten; unabhängige juristische Verfolgung von Massakern, die mutmaßlich von Militäreinheiten in Burkina, Mali und Niger verübt worden sind. Auf zivil-militärischer Ebene: grundsätzliche Revision der offiziellen und selbst zugewiesenen „Mandate“ der lokalen Milizen und „Freiwilligen“-Verbände; strikt defensive Neu-Definition eines möglichen Einsatz-Auftrages lokaler Milizen; Definition und Umsetzung der ersten essentiellen Schritte der Polizei- und Justizreform; Einrichtung eines gemeinsamen, internationalen Gremiums zu unabhängigem Monitoring und Evaluierung der verpflichtend eingegangenen Maßnahmen; Definition eines regionalen, von AU und ECOWAS getragenen, Sanktionsmechanismus bei Nichteinhaltung der eingegangenen Verpflichtungen. 

Nationalen Dialog fördern und organisierte gesellschaftliche Debatte über den Islam im Sahel

Auf ziviler Ebene fällt letztlich die Entscheidung, und hier ist es mit einfachen politischen Forderungen des Typs „Bessere Regierungsführung“ nicht weit her. Im Grunde geht es, auch für die Autoren des zitierten Papiers, um das Angebot, die (Wieder-)Aufnahme eines nationalen Dialogs in Burkina, Mali und Niger unter Einbeziehung aller Ethnien und gesellschaftlichen Kräfte mit der internationalen Garantie für die finanzielle und technische Umsetzung aller Maßnahmenpakete zu verbinden, die eine neue Allianz ziviler Kräfte für die Wiederherstellung von flächendeckender Staatlichkeit in ihren Ländern für wesentlich hält. Dieses Angebot skizziert also einen gemeinsamen Suchprozess und keinen von außen vorgegebenen Maßnahmenkatalog. Nicht verhandelbar ist einzig das Ziel, ethnischer Stigmatisierung und elektoralistisch motivierter Konfliktverschärfung ein Ende zu setzen. Wenige der bisher in der Diskussion genannten Reformthemen und Maßnahmenpakete sind völlig neu; vieles davon existiert im Kleinen schon in der Nebenwelt der EZ-Projekte. Ganz neu wäre der politische Ansatz, die Strategie von ihrem Ende her zu denken: was und wieviel ist erforderlich, um das Land in der Fläche zu stabilisieren, und wer garantiert die Umsetzung? So funktioniert die internationale Zusammenarbeit bisher nicht.

Nach Ansicht verschiedener Beobachter bedarf es auch einer organisierten gesellschaftlichen Debatte über den Islam im Sahel – über die Rolle der verschiedenen Strömungen, die sich auf den Islam berufen, die unklare Grenzziehung gegenüber dem Islamismus bzw. die Territorialverschiebung zu den seit Jahrzehnten von außen geförderten radikalen Formen des Islam, einschließlich der Einrichtungen islamorientierter Erziehung. Dazu gehört eine Debatte über die lokalen Kulturen, die Islam und animistische Tradition verbinden und immer mehr an Bindungswirkung verlieren.

Bisher ist die Haltung in Berlin, gar keine strategischen Antworten zu geben

Die Autoren des Papiers haben ritualisierte politische Antworten auf ihre Vorschläge schon antizipiert („Lage wird sich beruhigen, keine Panikmache“; „Verstärkung der bewährten Zusammenarbeit“; „Nichts zu machen – der Sahel ist eine chasse gardée von Frankreich“; „Bitte keine Allmachtsphantasien“; „Haben zur Zeit andere Prioritäten“; „Nicht zu finanzieren“). Interessant ist in der kurzen Rezeptionsgeschichte zweierlei: Wie vorher schon in Paris dominiert bisher auch in Berlin die Haltung, gar keine strategischen Antworten zu geben. Das mag sich ändern. In den Antworten aus Ouagadougou hat bisher niemand eine große Lösung für übertrieben oder gar überflüssig erklärt, ganz im Gegenteil. Skepsis herrscht nur in Bezug auf die Bereitschaft der kleinen politischen Elite, umzusteuern und mitzuziehen. Aber von ihr allein soll der Fortgang der Dinge ja im Sinne der Initiative nicht mehr abhängen.  

Zivil-militärische Zusammenarbeit Stabilisierung Sub-Sahara Afrika Frieden & Sicherheit

Helmut Asche

Prof. Dr. Helmut Asche ist Hochschullehrer im Ruhestand. Er lehrte an den Universitäten Leipzig und Mainz Entwicklungsökonomie, mit besonderer Berücksichtigung des subsaharischen Afrika. Das zitierte Konzeptpapier der Vereinigung für Afrikawissenschaften in Deutschland finden Sie hier: Burkina-/Sahelinitiative der VAD.