Kein Multilateralismus ohne funktionierendes Völkerrecht

10. November 2020   ·   Daniel Heilmann

Ohne ein funktionierendes Völkerrecht ist kein effektiver Multilateralismus möglich. Um multilaterale Initiativen zu stärken, sollte die Bundesregierung der schleichenden Erosion des Völkerrechts entgegenwirken, indem sie Schwellen- und Entwicklungsländer bei der Umsetzung völkerrechtlicher Verpflichtungen unterstützt.

Effektiver Multilateralismus benötigt als Grundlage das Völkerrecht. Es schafft Sicherheit und Vertrauen in internationale Beziehungen, da es formell Prozesse bündelt und so zwischenstaatliche Konflikte verringert, das Gemeinwohl fördert und zu globaler Gerechtigkeit beiträgt. Besonders im Zeitalter globaler Herausforderungen, von denen Klimawandel und internationaler Terrorismus nur die gravierendsten sind, hat das Völkerrecht als Ordnungsprinzip entscheidende Bedeutung. Dies gilt insbesondere bezüglich seiner Legitimierungsfunktion als Recht, das zugleich politische Handlungsspielräume eröffnet und beschränkt. Für die von der Bundesregierung angestrebte Intensivierung multilateraler Initiativen ist die zunehmende Marginalisierung des Völkerrechts daher eine Gefahr. Für funktionierenden Multilateralismus sollte die Bundesregierung daher der Aushöhlung des Völkerrechts gezielt entgegenwirken.

Die Aushöhlung des Völkerrechts entzieht dem Multilateralismus die Grundlage

Bisher galt, dass Völkerrecht in einem gemeingültigen Prozess der Formalisierung und Autorisierung des Rechts durch die Staaten geschaffen wird. Die explizite (oder im Völkergewohnheitsrecht teils implizite) Zustimmung autorisiert das Recht und schafft institutionalisierte Beziehungen. Völkerrecht stellt insofern einen inklusiven Rahmen, in welchem Debatten zwischen konkurrierenden Ansichten stattfinden. Erosion und Fragmentierung des Völkerrechts bedrohen diesen Rahmen zunehmend. Unter Erosion ist vor allem (aber nicht nur) das Phänomen zu verstehen, dass einst universelle Rechtsregeln in der politischen Praxis der Staaten zunehmend selektiv ausgelegt und angewendet werden.

Unilateralismus verstärkt diesen Effekt. Damit einhergehend interpretieren (oder ignorieren) Staaten das Völkerrecht, um ihre strategischen Interessen durchzusetzen. Beispiele gibt es viele: Die USA ziehen sich aus der internationalen Ordnung und völkerrechtlichen Verträgen zurück (z.B. aus der Weltgesundheitsorganisation oder dem Pariser Klimaabkommen); China und Russland beachten geltendes Völkerrecht bestenfalls selektiv in ihrem außenpolitischen Handeln. Gegenwärtige Negativbeispiele sind die Umgehung der mit dem Vereinigten Königreich vereinbarten Autonomie Hong Kongs durch China oder die dem humanitären Völkerrecht widersprechende russische Unterstützung von Separatisten im Osten der Ukraine. Spätestens seit der Annexion der Krim durch Russland stellt sich die Frage, ob völkerrechtliche Prinzipien gezielt herausgefordert werden. Bundespräsident Steinmeier hat in seiner Rede zur Eröffnung der Münchner Sicherheitskonferenz 2020 treffend festgestellt, dass Russland militärische Gewalt und die gewaltsame Verschiebung von Grenzen wieder zum Mittel europäischer Politik gemacht hat.

Der Erfolg multilateraler Vereinbarungen und der regelbasierten Ordnung basiert auf eben jenem völkerrechtlichen Unterbau, der durch bindende Regeln Vertrauen und Gewissheit in internationalen Beziehungen schafft, aber durch wachsenden Unilateralismus schleichend ausgehöhlt wird. Die Herausforderung besteht also darin, diesem Prozess entgegenzuwirken.

Der Schlüssel zur Wiederbelebung des Völkerrechts: Bessere Umsetzung in Schwellen- und Entwicklungsländern

Das Völkerrecht muss dabei nicht unbedingt im Sinne der reinen Rechtslehre Kelsens als universelles Recht verstanden werden, aber wenigstens doch als der kleinste gemeinsame Nenner in internationalen Beziehungen. Das Primat des Völkerrechts kann insbesondere Mittelmächten wie Deutschland oder Frankreich, vor allem aber auch kleineren Entwicklungs- und Schwellenländern einen notwendigen Schutz gegen rücksichtslose Dominanz von Großmächten bieten. Wenn sich eine Vielzahl kleinerer Staaten glaubhaft für die Einhaltung der elementaren Abkommen (z.B. ICCPR, ICESCR, VCLT, UNCLOS, Genfer Konventionen) einsetzt, so hilft das bei Durchsetzung der völkerrechtsbasierten Ordnung gegen mächtige Partikularinteressen.

Die Realität sieht in Entwicklungs- und Schwellenländern (d.h. vor allem den Ländern der DAC-Liste, abzüglich China) jedoch oft so aus: Völkerrechtliche Abkommen und Verträge werden zwar in Kraft gesetzt, eine Umsetzung erfolgt jedoch nicht. Es ist keine Seltenheit, dass Parlamente, Gerichte und zuständige Ministerien kaum über Inhalte und Tragweite der internationalen Abkommen, die in ihre Zuständigkeit fallen, informiert sind. Nur selten werden daher zum Beispiel im Falle von Menschenrechtsverträgen hinreichende nationale Umsetzungsstrategien entwickelt. So bleibt völkerrechtliches Vertragswerk oft abstrakt und blutleer.

Ergebnis ist ein völkerrechtliches Vollzugsdefizit und die Schwächung der internationalen regelbasierten Ordnung. Sowohl die internationale Gemeinschaft als auch die Entwicklungsländer würden von der Stärkung der regelbasierten Ordnung profitieren, denn geteilte Verantwortung und völkerrechtskonformes Handeln führen zu Verlässlichkeit in internationalen Beziehungen und zu einem besseren Schutz globaler Güter und universeller Werte. Stärkere Teilhabe von strukturell schwachen Staaten würde nicht nur ihre Verhandlungsmacht vergrößern, sondern auch ihren Sinn für Handlungsfähigkeit (d.h. ihr Gespür, durch eigene Handlungen konkrete bindende Folgen herbeiführen zu können). Denn Völkerrecht beeinflusst direkt die Verteilung von Ressourcen und schützt souveränes Handeln – ein Gut, für das die Staaten im globalen Süden lange gekämpft haben.

Völkerrechtliche Kapazitäten in Schwellen- und Entwicklungsländer fördern, um multilateralen Initiativen Rückhalt zu verschaffen

Das Weißbuch Multilateralismus sollte die zentrale Rolle des Völkerrechts für effektiven Multilateralismus betonen. Die regelbasierte internationale Ordnung benötigt einen funktionierenden völkerrechtlichen Rahmen um dem Ziel globaler Stabilität und Gerechtigkeit näher zu kommen.

Die Bundesregierung sollte den anfangs aufgezeigten Tendenzen zur gezielten Schwächung des Völkerrechts entgegenwirken, indem sie insbesondere vulnerable Staaten dafür sensibilisiert ihre völkerrechtliche Kapazität auszubauen und somit die regelbasierte Ordnung zu stärken.  Durch Wissenstransfer und gezielten Kapazitätsaufbau sollte sie einen Beitrag zum „level playing field“ im Kontext völkerrechtlicher Kernbereiche leisten. Schwellen- und Entwicklungsländer sollten gezielt unterstützt werden, Verantwortung in internationalen Foren zu übernehmen und die Einhaltung völkerrechtlicher Grundsätze einzufordern. Insbesondere kleinere Länder können so zu Verbündeten für effektiven Multilateralismus werden (z.B. die Pazifikinselstaaten bei Klimaabkommen oder Staaten der östlichen Nachbarschaft bei Menschenrechten). Unilaterales und völkerrechtswidriges Handeln der Großmächte kann in letzter Konsequenz vielleicht nicht verhindert werden, es würde aber zumindest mit mehr Nachdruck als völkerrechtswidrig gebrandmarkt und die Hemmschwelle für Verstöße erhöht werden. Dies alleine wäre schon ein Erfolg gegenüber dem Status quo.

Im Zentrum der Bemühungen zur Wiederbelebung des Völkerrechts sollten zivilgesellschaftliche Initiativen stehen, denn vor allem diese würden durch Neutralität und Unparteilichkeit auf breite Akzeptanz stoßen. Eine wichtige Rolle können ausgewählte Think Tanks, Universitäten und Stiftungen spielen, die über einen großen praktischen und theoretischen Erfahrungsschatz beim völkerrechtlichen Kapazitätsaufbau verfügen. Sie sind erfahrungsgemäß in den Zielländern hochangesehen und haben den notwendigen Zugang zu Expert*innen und Entscheidungsträger*innen in relevanten Institutionen. Zudem sind sie aufgrund langjähriger Kooperationen vor Ort oft der bevorzugte Ansprechpartner von Ministerien, Parlamenten und Gerichten und können so die notwendige Sensibilisierung bewirken. Das Auswärtige Amt (insbesondere Referat S03) sollte in diesem Kontext bei seinen Friedensförderungs- und Stabilisierungsmaßnahmen Projekte zum Kapazitätsaufbau im Bereich Völkerrecht fördern. Auch andere steuernde Referate, beispielsweise im Bereich Menschenrechte, sollten die bei den genannten zivilgesellschaftlichen Akteuren vorhandenen Potentiale verstärkt mitdenken, um multilaterale Allianzen zu aktivieren und Problembewusstsein zu schaffen.

Gerade im Kontext von Krisenprävention und Friedensförderung durch das Auswärtige Amt werden multilaterale Initiativen erfolgreich sein, wenn sie sich auf völkerrechtliche Prinzipien und Abkommen berufen und so einen breiten Rückhalt organisieren. Das Weißbuch Multilateralismus muss deshalb ein klares Bekenntnis zur Kräftigung des Völkerrechts enthalten, denn letztlich sind Völkerrecht, regelbasierte Ordnung und Multilateralismus sich gegenseitig bestärkende Systeme.