Multilateralismus im Klartext: Politik für starke Vereinte Nationen

14. Oktober 2020   ·   Detlef Dzembritzki, Lisa Heemann

Die Bundesregierung sollte die Vereinten Nationen in den Fokus des „Weißbuch Multilateralismus“ rücken. Nur die UN können die multilaterale Koordination leisten, die es für die Lösung von Konflikten benötigt. Dafür müssen sie jedoch reformiert werden. Deutschland sollte ressortübergreifende Unterstützung für UN-Reformen bieten sowie eine enge EU-UN Partnerschaft vorantreiben.

Zwei Drittel der Menschen in Deutschland können mit dem Begriff Multilateralismus nichts anfangen, das zeigte 2019 eine Umfrage der Körber Stiftung. Wenn Politik und Wissenschaft das Rätsel lösen und den Begriff erklären möchten, bleiben sie entweder unterkomplex und beliebig („Zusammenarbeit zwischen Staaten“) oder sie brauchen sehr viele Zusätze, um Ziele, Grundlagen und Formen des gemeinten Multilateralismus von den Vorstellungen anderer (wie zum Beispiel Chinas) abzugrenzen. Wie viel konzeptionelle Klarheit und kommunikative Überzeugungskraft kann da in einem Weißbuch Multilateralismus stecken?

Starke Vereinte Nationen statt Bedeutungsunklarheit im Weißbuch Multilateralismus

Wir plädieren als DGVN zugunsten einer „Politik für starke Vereinte Nationen“ als Ergebnis aller Diskussionen über ein Weißbuch Multilateralismus. Wir teilen die Einschätzung, dass „ein handlungsfähiges multilaterales Kooperationssystem mit den reformierten Vereinten Nationen als universellem Herzstück“ notwendig ist. Die UN bieten in doppelter Hinsicht ein einzigartig universelles Forum: Erstens sind alle Staaten der Welt Mitglied und zweitens umfasst ihre Arbeit alle Themen der internationalen Kooperation. In der Charta der Vereinten Nationen stecken die Werte und Ziele, die Grundstrukturen und -regeln, die wir für das Weißbuch Multilateralismus mühsam mit einer „regelbasierten internationalen Ordnung“ auf Grundlage von gemeinsamen Werten oder als „wertegeleiteten Multilateralismus“ umschreiben. Der Begriff Multilateralismus schafft keine Klarheit im gesellschaftlichen Diskurs und im Austausch mit den Partnern, ein Bekenntnis zur UN-Charta tut es.

Die Gewichte in der internationalen Ordnung und transatlantischen Partnerschaft verschieben sich, andere Kooperationen werden nötig. Die deutsche Außenpolitik passt sich an, bestimmt Ziele neu und findet passende Partner. Doch noch mehr hat sich geändert: Außenpolitik richtet sich nicht mehr nur an die Partner im Ausland. Der innerstaatliche Dialog über die Grundlagen und Ziele der Außenpolitik wird wichtiger. Für den gesellschaftlichen Diskurs kommt es darauf an, Akteure und Werte klar zu benennen und Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit neben Politikexpertinnen und -experten und Entscheidungsträgerinnen und -trägern schon im Prozess einzubeziehen. Dabei müssen die Vereinten Nationen als Rahmen unseres internationalen Handelns klar benannt und gestärkt werden. Die Bundesregierung sollte sich ausdrücklich auf die Charta der Vereinten Nationen beziehen und einen Beitrag dazu leisten, diese einzigartigen Vereinten Nationen mit ihren oft unbefriedigenden Prozessen zu reformieren und zu stärken. Dass die Bundesregierung themenspezifisch in Zusammenschlüssen von „Freundesgruppen bis zu Koalitionen der Willigen“ zusammenarbeitet, um Einigungen auf globaler Ebene vorzubereiten und zu fördern, ist dabei weder neu noch steht das im Widerspruch zu starken Vereinten Nationen. Es ist selbstverständlich. Doch es ist ein Trugschluss, dass allein informelle Gruppen die gewünschten Ergebnisse bei globaler Normsetzung und Umsetzung erzielen könnten. Die Allianzen – ob jene der Demokratien oder jene für den Multilateralismus – kommen und gehen, die Vereinten Nationen bleiben.

Was heißen starke Vereinte Nationen ganz konkret? Die Vereinten Nationen wurden 1945 gegründet, um einen Dritten Weltkrieg zu verhindern, um „zukünftige Generationen vor der Geißel des Krieges zu bewahren“. Die Charta der Vereinten Nationen bildet den Grundstein der globalen Friedens- und Sicherheitsarchitektur. Die Weltgemeinschaft hat sich auf ein Gewaltverbot geeinigt und darauf, gemeinschaftlich unter dem Dach der Vereinten Nationen nötigenfalls Maßnahmen zu ergreifen, um Konflikte zu verhindern, zu beenden oder zu befrieden. Die Aufgabe, den Frieden zu wahren, ist heute nicht kleiner und nicht leichter geworden.

Konflikte lösen, nicht nur verwalten: Die UN müssen ganzheitlich, koordiniert und strategisch handeln

Wie sind die Vereinten Nationen hier aktuell aufgestellt? Unser Eindruck ist: Die UN verwalten zu oft die Konflikte nur. Es gelingt zu selten, Konflikte tatsächlich zu lösen. Vernetzte Sicherheit braucht Kooperation und Transparenz. Alle Bemühungen um Frieden können nur fruchten, wenn die diversen Akteure und Handlungsfelder (wie Menschenrechte und nachhaltige Entwicklung) koordiniert und zusammengedacht werden. Die UN brauchen eine von den Mitgliedstaaten mitgetragene vernetzte Friedens- und Sicherheitspolitik, die wirksame Lösungsstrategien herausarbeitet. Militäreinsätze ohne Konzept für die politische Lösung sind zum Scheitern verurteilt. Der Frieden hat nur Bestand, wenn die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen nach Sicherheit, Ernährung oder Bildung dauerhaft gesichert sind und Partizipation möglich ist. Die Klärung dieser Fragen führt zu Frieden, dazu braucht es aber eine Strategie. Die Vereinten Nationen haben die Legitimität und das Potential, sie brauchen die energische Unterstützung der Mitgliedstaaten, um Strategien entwickeln und umzusetzen zu können. Friedenseinsätze müssen kontinuierlich evaluiert werden, es müssen die richtigen Schlüsse daraus gezogen werden und die Arbeit zu den verschiedenen Handlungsfeldern und auf diversen Ebenen koordiniert werden. Das können nur die Vereinten Nationen.

Mali ist ein aktuelles Beispiel für die Vernetzungsproblematik, weil sich dort zeigt, wie gering das Zusammenwirken mit den politischen Akteuren, mit der Regierung, dem Parlament und mit der Zivilgesellschaft ausgeprägt ist. In Mali sind nicht nur insgesamt vier mandatierte internationale Missionen aktiv, sondern auch unzählige Entwicklungsorganisationen. Für die dortige UN-Friedensmission MINUSMA hat der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ein sehr komplexes Mandat verabschiedet. Auch Deutschland ist mit einem größeren Kontingent von Soldatinnen und Soldaten daran beteiligt. Der Fokus liegt bei den involvierten Mitgliedstaaten darauf, das Friedensabkommen von 2015 militärisch abzusichern. Wer sich jedoch auf das Militär fokussiert, verliert die nötigen Grundvoraussetzungen für einen nachhaltigen Frieden aus den Augen: Zivile Hilfe und der Aufbau von Staat und Verwaltung müssen mitgedacht und koordiniert werden.

Partnerschaft mit der EU und ressortgemeinsame, vernetzte Unterstützung durch die Bundesregierung und den Bundestag

Die UN brauchen starke, koordinierte Partner für diese Aufgaben. Das ist allen voran die Europäische Union. Für die Bundesregierung heißt eine Politik für starke Vereinte Nationen auch: Wie kann Deutschland einen Beitrag zu einer stärkeren, gemeinsamen UN-EU-Strategie leisten? Wie kann die EU hier sinnvoll zuarbeiten? Diese Fragen sollte das Weißbuch Multilateralismus klären.

Für die politischen Diskussionen und Erwägungen in Deutschland wünschen wir uns, dass der Auswärtige Ausschuss des Bundestags unter Beteiligung der zuständigen Fachausschüsse im Weißbuch Multilateralismus als zentraler Ort für die Themen Krisenprävention und Vereinte Nationen benannt wird, an dem vernetzte Lösungsansätze für Konflikte erörtert werden können. Zum Beispiel hätten bei der Mandatierung für den Einsatz in Mali im deutschen Bundestag auch entwicklungspolitische Maßnahmen und ihre Koordination angesprochen werden sollen, um langfristig wirksam Frieden zu fördern; ebenso die Zusammenarbeit mit UN-Organisationen vor Ort.

Es darf keine Routine der Verwaltung von Konflikten geben! Wir ermuntern die Bundesregierung, hier anspruchsvoller zu sein und die Vereinten Nationen für diese Aufgaben zu stärken. Welche Ideen gibt es zu den nötigen Reformen der UN in der Bundesregierung? Und ist sie bereit, dafür über finanzielle Mittel hinaus auch gezielt Ressourcen wie Personal oder technologische Fähigkeiten einzusetzen?

Auch innerhalb Deutschlands gilt es, den Fokus auf starke Vereinte Nationen zu legen. An der deutschen UN-Politik sind fast alle Ressorts der Bundesregierung mit ihren Themen beteiligt, aber das Nebeneinander muss überwunden werden. Die Ressorts müssen an zentraler Stelle in der Bundesregierung koordiniert werden und sie müssen die Ziele der deutschen UN-Politik und ihren Beitrag dazu kennen. Die Ressorts müssen sich mit ihren Themengebieten in das Gesamtkonzept einfügen. Den Vorschlag, den Unterausschuss Vereinte Nationen aufzuwerten, unterstützen wir deswegen entschieden. Ein solches Bekenntnis zu einer Politik für starke Vereinte Nationen im Weißbuch Multilateralismus ist eine überzeugende und handlungsleitende Botschaft an alle – die Politik, die Gesellschaft und die Partner im Ausland.

Vereinte Nationen Europäische Union Kommunikation

Detlef Dzembritzki

Detlef Dzembritzki ist Vorstandsvorsitzender der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN). @DGVN_de

Lisa Heemann

Dr. Lisa Heemann ist Generalsekretärin der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN). @DGVN_de