Mächtig, moralisch, multilateral – Deutschlands schwierige Partnerwahl

03. November 2020   ·   Tim Heinkelmann-Wild

Unilaterale und illiberale Bestrebungen setzen die „liberale internationale Ordnung“ unter Druck. Um diese zu revitalisieren, sollte die Bundesregierung im Rahmen einer „Allianz für den Multilateralismus“ ihre Partner je nach Problemlage sorgfältig auswählen. Das Weißbuch kann hierzu einen wichtigen Beitrag leisten, indem es Macht, Moral und Multilateralismus zusammendenkt und die richtigen Prioritäten setzt.

Das Ideal einer „liberalen internationalen Ordnung“ (LIO), die spätestens seit dem Ende des Ost-West-Konflikts als alternativlos erschien, ist in einer doppelten Krise. Diese Krise ist umso gravierender, als sie von ehemals zentralen Partnern Deutschlands mitverursacht wird. Die LIO beruht auf regelbasierten, multilateralen Prozessen sowie liberalen Prinzipien wie Menschenrechten, Freizügigkeit und Freihandel.

Einerseits setzen Staaten wie Großbritannien oder die USA jedoch zunehmend auf Unilateralismus. So lehnte es die Trump-Administration wiederholt ab, bei der Schaffung multilateraler Institutionen zur Bearbeitung globaler Probleme mitzuwirken, senkte die Beiträge für Institutionen wie die UN oder beendeten gar ihre Mitgliedschaft wie in der WHO. Ein solcher Rückzug aus multilateraler Zusammenarbeit führt oft zu deren Lähmung, da andere Staaten zögern, ohne wichtige Beitragszahler weiterhin zu kooperieren. Drängende Probleme bleiben unbearbeitet.

Andererseits wird die LIO durch wachsenden Illiberalismus herausgefordert. Dieser beschränkt sich nicht nur auf Autokratien wie China und Russland – auch in Demokratien wie Frankreich oder Österreich sind nationalistisch-populistische Parteien erstarkt oder an die Regierung gelangt. Wenn selbst die Regierungen demokratischer Staaten liberale Werte durch Wort und Tat offen und grundsätzlich in Frage stellen, weil diese dem Interesse und der Souveränität ihrer als national imaginierten Gemeinschaften entgegenstünden, dann fällt es auch anderen leichter, dies zunehmend zu tun. Gerade Autokratien können damit ihre eigenen Abweichungen von multilateralen Regeln besser rechtfertigen. Die Zahl der Unterstützer der LIO – selbst auf Seiten der westlichen Demokratien – sinkt.  

Herausfordernde Partnerwahl: Das Richtige mit den Richtigen tun

Deutschland allein ist weder fähig noch (aus guten Gründen) willens, die LIO unilateral zu retten und drängende globale Probleme alleine zu bearbeiten. So kommen die Initiative des Außenministers für eine „Allianz für den Multilateralismus“ und der Weißbuch-Prozess zum richtigen Zeitpunkt, um bestehende Regelwerke wiederzubeleben und neue zu gestalten. Die Bundesregierung kann einen großen Beitrag leisten – aber nur mit den richtigen Partnern.

Einerseits wäre es nicht zielführend, mit allen über alles zu sprechen, da dies nicht nur die UN Generalversammlung duplizieren, sondern Deutschlands organisatorische Fähigkeiten überfordern würde. Anderseits greift es auch zu kurz, ausschließlich moralischen Prinzipien folgend einen Club der liberalen Demokratien zu bilden, der andere einflussreiche Akteure grundsätzlich ausschließt. Schließlich wäre es ebenso fatal, aus rein machtpolitischen Erwägungen in die Zeiten eines Großmächte-Konzerts zurückzufallen und moralische Überzeugungen über Bord zu werfen.

Die Bundesregierung sollte daher im Rahmen einer „Allianz für den Multilateralismus“ ihre Partner klug auswählen und dabei versuchen, Macht und Moral in Einklang zu bringen – kurzum: das Richtige mit den Richtigen zu tun. Denn die effektive Bearbeitung globaler Probleme erfordert einerseits die Zusammenarbeit mit Partnern, die über relevante Machtmittel verfügen. Andererseits kann Multilateralismus als Prozess (und Wert an sich) die Formulierung moralischer Leitplanken nicht ersetzen, an denen sich sein Inhalt messen lassen muss. Daraus ergeben sich konkrete Empfehlungen für das Weißbuch und die Struktur der „Allianz“.  

Kerngruppen mächtiger Staaten mit problembasierten Partnerschaften ergänzen

Mächtige Staaten wie Deutschland können mehr zur effektiven Problemlösung beitragen als schwächere Staaten. Sie besitzen finanzielle und diplomatische Fähigkeiten, die allgemein für die Organisation von multilateraler Zusammenarbeit jenseits konkreter Probleme nötig sind. So können mächtige Staaten die Bearbeitung verschiedener Probleme bündeln, möglichen Partnern Anreize für die Zusammenarbeit bieten sowie Regelbrüche und Trittbrettfahren sanktionieren. Zudem sind sie Vorbilder bei der Umsetzung multilateraler Vereinbarungen. Deutschland, Frankreich, Kanada oder Japan beispielsweise sind somit als Organisatoren, Geldgeber und Vorbilder besonders wichtig für erfolgreiche multilaterale Zusammenarbeit. Deshalb sollten die enge Partnerschaft und Arbeitsteilung mit einer kleinen Zahl relativ mächtiger Staaten den Kern jeder multilateralen Initiative der Bundesregierung bilden.

Doch von Problem zu Problem kann es auch auf weitere Machtmittel ankommen. Beispielsweise ist bei der Begrenzung der Erderwärmung besonders die Zusammenarbeit mit Ländern wie China relevant, die besonders viel CO2 ausstoßen. Und will man den Tod von Migrant*innen im Mittelmeer verhindern, so kommt Transitstaaten wie Libyen durch ihre geographische Position eine zentrale Rolle zu. Ohne deren Teilnahme wäre ein multilateraler Lösungsversuch wirkungslos. Folglich sind manche Staaten bei der Bearbeitung eines konkreten Problems entscheidend – und verfügen damit über Problem-spezifische Macht. Während die Partnerschaft mit solchen Staaten bei der Bearbeitung eines konkreten Problems oft alternativlos ist, haben diese dann großen Einfluss über die inhaltliche Ausgestaltung multilateraler Regelwerke. Hierdurch kann es leicht zu riskanten Abhängigkeitspositionen und einem Konflikt mit den moralischen Prinzipien deutscher Außenpolitik kommen, wie es der „EU-Türkei Deal“ verdeutlicht, der Deutschland im Engagement für Multilateralismus unglaubwürdig aussehen lässt.  

Trotz Machtabwägungen Grundwerte nicht aus den Augen verlieren

Das Spannungsverhältnis zwischen Macht und Moral rührt daher, dass Multilateralismus eben nicht nur ein Selbstzweck ist. Sicher: Multilateralismus kann auch ein Selbstzweck sein – insbesondere für Deutschland, wo er als außenpolitisches Prinzip Verfassungsrang hat. Wenn Multilateralismus auf die Bildung langfristiger Vertrauensbeziehungen angelegt ist, dann hat er einen Wert an sich. Bei der Revitalisierung der LIO sollte die Bundesregierung also stets auf multilaterale Regelwerke setzen.

Es darf dabei aber nicht aus dem Blick geraten, dass Multilateralismus als Prozess immer auch konkrete Zwecke verfolgt. Wo liberale Prinzipien wie universale Menschenrechte, Rechtstaatlichkeit, Freizügigkeit oder Freihandel nicht direktes Ziel von Kooperation sind, so hängen sie meist indirekt mit der Bearbeitung globaler Herausforderungen wie dem Klimawandel oder Bürgerkriegsflucht zusammen. Viele mögliche Partner, die über relevante Machtmittel verfügen, kritisieren aber eben diese liberalen Aspekte und sind somit Teil der Krise der LIO und nicht deren Lösung. So waren Russland und China zwar bereit, die durch die USA entstandene Finanzierungslücke im UN-Peacekeeping zu füllen, jedoch drängten sie im Gegenzug auf die Abschaffung von Menschenrechts-Posten. Will die Bundesregierung in der Öffentlichkeit nicht als unglaubwürdig oder gar scheinheilig erscheinen, so muss sie ihre Grundwerte bei der Partnerwahl berücksichtigen.  

Macht und Moral balancieren: Rote Linien, Prioritätensetzung und Transparenz

Die Bundesregierung muss Multilateralismus, Macht und Moral bei der Partnerwahl also zusammendenken. Deutschland sollte die „Allianz für den Multilateralismus“ als Problem-übergreifendes, informelles Netzwerk begreifen. Organisatorischer Kern der „Allianz“ sollten mächtige, liberale Demokratien wie Deutschland und Frankreich bilden. Die Partnerwahl für diesen Kern sollte durch große finanzielle und diplomatische Fähigkeiten sowie liberale Grundwerte begründet sein. Eine solche Kerngruppe wäre dann glaubwürdig, da sie keinen moralischen Kompromiss darstellt.

Zugleich würde sie über die notwendige organisatorische Macht verfügen, um in Arbeitsteilung drängende Probleme sowie Problem-spezifische Partner zu identifizieren und Initiativen zu deren Bearbeitung einzuleiten. Solange Staaten mit notwendigen, Problem-spezifischen Machtmitteln die Grundwerte der Kerngruppe teilen, ist eine Erweiterung unproblematisch. Tun sie dies nicht, muss eine Abwägung zwischen Grundwerten und effektiver Problem-Bearbeitung getroffen werden.

Während sich das Spannungsverhältnis zwischen Macht und Moral nicht immer auflösen lässt, kann das Weißbuch durch die Definition von Grundwerten und die Priorisierung von Problemen einen wichtigen Beitrag leisten:

Einerseits sollte die Bundesregierung im Weißbuch rote Linien klar kommunizieren, die auch in Verhandlungen mit möglichen illiberalen Partnern nicht übertreten werden dürfen. Anderseits sollte das Weißbuch die für Deutschland dringlichsten globalen Probleme identifizieren und bewerten.

Anschließend sollten die zur effektiven Bearbeitung notwendigen, Problem-spezifischen Fähigkeiten abgeschätzt und geklärt werden, ob und wenn ja mit welchen (auch nicht-staatlichen) Partnern zusammengearbeitet werden müsste. Durch dieses „Mapping“ kann die Bundesregierung Probleme priorisieren, die sie mit der Kerngruppe und eventuell weiteren, gleichgesinnten Partnern allein bearbeiten kann.

Schließlich sollte sich die Bundesregierung dazu verpflichten, dort, wo die Dringlichkeit eines Problems moralische Kompromisse unbedingt erfordert, ihre Güterabwägung öffentlich zu diskutieren und zu rechtfertigen. Durch diese Transparenz kann sie trotz schwieriger Abwägungen glaubwürdig wirken. Dies sicherzustellen und die Bürger*innen bei ihrem multilateralen Engagement insgesamt mitzunehmen, ist von zentraler Bedeutung. Denn die letzten Jahre haben gezeigt, dass auch westliche Demokratien vor Illiberalismus und Unilateralismus nicht gefeit sind und die innenpolitische Unterstützung für die LIO kontinuierlich sichergestellt werden muss.

Partner Cooperation Multilateralismus

Tim Heinkelmann-Wild

Tim Heinkelmann-Wild ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Ludwig-Maximilians-Universität München. In seiner Forschung geht er unter anderem der Frage nach, warum multilaterale Institutionen umstritten sind und wann dies schwere Konsequenzen für sie hat.
@heinkelmannwild