Mehr als eine abstrakte Hülle: Multilateralismus mit Normen und Reformen stärken 09. November 2020 · Hannah Birkenkötter Ein Weißbuch Multilateralismus sollte abstrakte Begriffe inhaltlich füllen, Regeln der internationalen Ordnung benennen, die für Deutschland zentral sind, und Strukturen stärken, die diese Regeln unterstützen. Multilaterale Zusammenarbeit hat Auswirkungen auf die nationale Rechtsordnung. Das Weißbuch sollte darum auch das Verhältnis von Exekutive und Legislative berücksichtigen. Debatten Weißbuch Multilateralismus Impulse für die Bundesregierung Dass die Bundesregierung ein „Weißbuch Multilateralismus“ als Gegenpol zu dem allgegenwärtigen Trend wachsender Nationalismen entwickelt, ist begrüßenswert – das zeigen auch die vielen positiven Stimmen in dieser Debatte. Freilich ist das Bekenntnis zu multilateraler Zusammenarbeit dann einfach, wenn im Vagen bleibt, was der schillernde Begriff eigentlich bedeutet. Auf der Website der Allianz für den Multilateralismus ist nachzulesen: Auf dem Gebiet der Außenpolitik bedeute Multilateralismus, dass Staaten zur Erreichung gemeinsamer Ziele und zur Ausbalancierung widerstreitender Interessen zusammenarbeiten; außerdem erfolge diese Kooperation auf der Grundlage bestimmter Prinzipien und Werte. Dazu zählen laut Bundesregierung die Menschenrechte, die „regelbasierte internationale Ordnung“ und das internationale Völkerrecht. Die Bundesregierung sollte im Weißbuch Multilateralismus deutlich machen, welche bestehenden Normen sie prioritär unterstützen möchteAllerdings bleiben Phrasen wie ein „normatives Verständnis internationaler Ordnung“, „wertegeleiteter Multilateralismus“ und auch die „regelbasierte internationale Ordnung“ abstrakt, wodurch der Begriff des Multilateralismus letztlich beliebig wird. Alle vorgenannten Begriffe sind auslegungsbedürftig. Ein pauschales Bekenntnis zu „den“ Menschenrechten und „dem“ Völkerrecht muss spezifiziert werden, ebenso wie der Begriff „Multilateralismus“ offenkundig einer Erklärung bedarf. Die Bundesregierung sollte im Weißbuch Multilateralismus deutlich machen, welche bestehenden Normen sie prioritär unterstützen möchte und welche Organisationen und Plattformen hierbei gestärkt werden sollen. Ein Weißbuch Multilateralismus sollte außerdem anerkennen, dass internationale Normen und Institutionen in nationale Rechtsordnungen hineinwirken. Das erfordert konkrete Vorschläge, wie internationale Prozesse an den nationalen demokratischen Gesetzgeber rückgebunden werden können, wenn Regeln ausgehandelt werden, an die sich dann alle Staaten grundsätzlich halten sollen. Ein umfassender Friedensbegriff beinhaltet das allgemeine Gewaltverbot, sozioökonomischen Fortschritt und Menschenrechte Ich schließe mich den Beiträgen an, die im Rahmen dieser Debatte für starke Vereinte Nationen als Herzstück multilateraler Institutionen und die Agenda 2030 für Nachhaltige Entwicklung als Leitmotiv für das Weißbuch Multilateralismus geworben haben. Die Vereinten Nationen sind die einzige zwischenstaatliche Organisation, die prinzipiell allen Staaten der Welt offensteht und zugleich prinzipiell in allen Politikfeldern tätig ist. Das verleiht ihr – trotz aller Schwächen und Reformbedürftigkeit – eine besondere Rolle. Die zentrale Gründungsidee der Vereinten Nationen, erstmals formuliert in der Atlantik-Charta von 1941, bestätigt durch die Erklärung Vereinter Nationen von 1942 und schließlich kodifiziert in der Präambel der Charta und in ihren Artikeln 1 und 2, ist die Vermeidung weiterer Weltkriege durch die Einführung eines allgemeinen Gewaltverbots und der Zusammenarbeit der Staaten in einem multilateralen Rahmen. Das allgemeine Gewaltverbot markiert einen klaren normativen Umbruch in der Völkerrechtsordnung nach 1945; es ist in den letzten Jahren zunehmend Erosionstendenzen ausgesetzt worden. Die Bundesregierung sollte sich zu dieser wichtigen normativen Errungenschaft des allgemeinen Gewaltverbots deutlich und unmissverständlich bekennen. Die Bundesregierung sollte sich zu dieser wichtigen normativen Errungenschaft des allgemeinen Gewaltverbots deutlich und unmissverständlich bekennen. Die Charta der Vereinten Nationen bleibt aber nicht beim Gewaltverbot stehen, sondern bettet in ihrem Artikel 1 das Ziel des Weltfriedens in einen Kontext des sozio-ökonomischen Fortschritts und der Menschenrechte ein. So entsteht ein umfassender Friedensbegriff, aus dem die Organisation ihr universelles thematisches Mandat zieht. In den letzten 75 Jahren sind im System der Vereinten Nationen umfassende normative Rahmen in fast allen Politikfeldern ausgehandelt worden, die ständig weiterentwickelt werden. Dazu gehören im Bereich der Menschenrechte nicht nur die insgesamt neun Menschenrechtsverträge, sondern auch bereichsspezifische Normen, etwa die Kernarbeitsnormen der Internationalen Arbeitsorganisation, und eine Vielzahl weiterer Erklärungen, Standards und Grundregeln. Dazu gehört das Umweltvölkerrecht und das Klimaschutzrecht, ebenfalls mit einer Vielzahl von Verträgen, Erklärungen und Standards. Dazu gehören zahlreiche Abrüstungsverträge, das internationale Seerecht und die Vorschriften zur Bekämpfung des transnationalen organisierten Verbrechens und Antikorruption. All diese Themenbereiche sind nach dem Verständnis der Vereinten Nationen Teil eines umfassenden Friedensbegriffs und finden in der 2030 Agenda für Nachhaltige Entwicklung ihren Platz, deren 17 Ziele einen umfassenden Fahrplan für das kommende Jahrzehnt bilden. Diese Themenvielfalt sollte sich in einem Weißbuch Multilateralismus wiederfinden. Das Weißbuch sollte sich klar an den 17 Zielen orientieren, die bestehenden Normen für jedes Ziel aufgreifen und klarstellen, dass die Verwirklichung dieser 17 Ziele nur ressortübergreifend gelingen kann. Die Arbeit internationaler Organisationen vor Ort stärken und Reformbemühungen unterstützen Die Umsetzung internationaler Regeln wird nicht nur auf globaler Ebene in mitgliedstaatlichen Foren behandelt, sondern gerade auch durch das operative Geschäft der Weltorganisation vorangetrieben, oftmals in Kooperation mit einer Vielzahl lokaler und regionaler, staatlicher und nicht-staatlicher Akteure. Das Weißbuch Multilateralismus sollte nicht nur auf den Inhalt der zahlreichen multilateralen Verträge und anderen Instrumente verweisen, sondern auch die Akteure und Prozesse in den Blick nehmen, die die Umsetzung internationaler Regeln vorantreiben. Dazu gehört das operative Geschäft internationaler Organisationen, allen voran der Vereinten Nationen, sowie ihrer Programme und Sonderorganisationen. Dieses gilt es zu stärken und dabei gleichzeitig Verbesserungspotenzial aufzuzeigen. Die Bundesregierung sollte dort Reformvorschläge machen, wo sich Strukturen in den letzten Jahren als schwerfällig erwiesen haben. Dies betrifft zum einen solche Reformvorschläge, die kurzfristig umgesetzt werden können – etwa themenübergreifende Berichtspflichten oder stringentere leistungsbezogene Anforderungen an die Einstellung internationaler Bediensteter (beides hier vorgeschlagen). Zum anderen sollten aber auch Visionen vorgeschlagen werden, die heute unrealistisch anmuten mögen, aber die Welt ein wenig gerechter machen könnten – wie etwa eine einheitliche und niedrigschwellige Individualbeschwerdemöglichkeit bei Menschenrechtsverletzungen. Multilaterale Zusammenarbeit als Querschnittsaufgabe – auch für die Legislative Die angesprochene Themenvielfalt internationaler Normen betrifft nicht nur den Umgang der Staaten miteinander, sondern legt auch Regeln für den Umgang von Staaten mit Menschen innerhalb ihrer Staatsgrenzen fest – das betonen die Vereinten Nationen. Damit ist der Multilateralismus nicht nur ein rein außenpolitisches Anliegen. Internationale Normen wirken heute in die nationalen Rechtsordnungen hinein. Nationale und internationale Normen sind keine getrennten Normbestände; die Prozesse, in denen sie verhandelt, ausgelegt und umgesetzt werden, sind miteinander verschränkt. Das zeigt sich in Deutschland etwa an den kontroversen Debatten um internationale Politikprozesse wie etwa den UN-Migrationspakt; es zeigt sich ebenso in den Bereichen Klimawandel, Lieferkettengesetz oder Nachhaltige Entwicklung, um nur einige besonders augenfällige Beispiele zu nennen. Die Corona-Pandemie hat zuletzt noch einmal verdeutlicht, wie eng wir global miteinander vernetzt sind. Das heißt aber auch: Themen- und Handlungsfelder der multilateralen Zusammenarbeit sind Querschnittsaufgabe für die deutsche Politik. Themen- und Handlungsfelder der multilateralen Zusammenarbeit sind Querschnittsaufgabe für die deutsche Politik. Fast die Hälfte der Bevölkerung meint, Deutschland habe im Zuge der Globalisierung die Kontrolle über die Gestaltung seiner Politik verloren. Wenn internationale Politikprozesse aber Auswirkungen auf die innerstaatliche Rechtsordnung haben, dann ist es eine Legitimitätsfrage, inwieweit diese Prozesse auch durch das Parlament begleitet werden. Multilateralismus ist im Jahr 2020 nicht nur Aufgabe der Exekutive. Das Weißbuch sollte konkrete Vorschläge machen, wie eine ressortübergreifende Strategie der Bundesregierung auch mit der Arbeit des Bundestags verbunden und ein kontinuierlicher Informationsfluss gewährleistet werden kann. Dazu gehört die an anderer Stelle in dieser Debatte bereits geforderte Aufwertung des Unterausschusses Vereinte Nationen, verbunden mit einem klaren Aufgabenprofil. Die verschiedenen internationalen Politikprozesse sollten besser mit nationalen Politikprozessen verzahnt werden. Auch dieser Herausforderung, wie die bestehenden, nationalstaatlichen Strukturen demokratischer Legitimation auf die zunehmende Verflechtung nationaler und internationaler Normen reagieren können, sollte sich ein Weißbuch Multilateralismus annehmen. Debatten Weißbuch Multilateralismus Impulse für die Bundesregierung Vereinte Nationen Multilateralismus Völkerrecht Hannah Birkenkötter Hannah Birkenkötter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht, insb. Verfassungsrecht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin, wo sie zu Rechtsstaatlichkeitsdiskursen im System der Vereinten Nationen promoviert hat. Sie ist Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen e.V. (DGVN).
Artikel Mächtig, moralisch, multilateral – Deutschlands schwierige Partnerwahl Unilaterale und illiberale Bestrebungen setzen die „liberale internationale Ordnung“ unter Druck. Um diese zu revitalisieren, sollte die Bundesregierung im Rahmen einer „Allianz für den Multilateralismus“ ihre Partner je nach Problemlage sorgfältig auswählen. Das Weißbuch kann hierzu einen wichtigen Beitrag leisten, indem es Macht, Moral und Multilateralismus zusammendenkt und die richtigen Prioritäten setzt. Tim Heinkelmann-Wild • 03. November 2020
Artikel Ein Weißbuch Multilateralismus ist längst überfällig In einem Weißbuch Multilateralismus sollte die Bundesregierung ein wertebasiertes Verständnis von Multilateralismus festhalten. Sie sollte Zahlungen an internationale Organisationen flexibilisieren, um diese zu stärken. Für eine wirksamere parlamentarische Kontrolle sollte der Unterausschuss Vereinte Nationen des Bundestags zu einem vollwertigen Ausschuss aufgewertet werden. Ulrich Lechte • 02. Oktober 2020
Artikel Multilateralismus im Klartext: Politik für starke Vereinte Nationen Die Bundesregierung sollte die Vereinten Nationen in den Fokus des „Weißbuch Multilateralismus“ rücken. Nur die UN können die multilaterale Koordination leisten, die es für die Lösung von Konflikten benötigt. Dafür müssen sie jedoch reformiert werden. Deutschland sollte ressortübergreifende Unterstützung für UN-Reformen bieten sowie eine enge EU-UN Partnerschaft vorantreiben. Detlef Dzembritzki, Lisa Heemann • 14. Oktober 2020