Konflikt in Nordäthiopien: Schritte zu Frieden und Normalisierung

10. Dezember 2020   ·   Matthias Leitner

Um das Eskalationspotenzial am Horn von Afrika nachhaltig einzudämmen, sollte die Bundesregierung sowohl technische und finanzielle Mittel für die humanitäre Notversorgung in Tigray bereitstellen als auch ihre Expertise für Mediation und Entwicklungszusammenarbeit anbieten. Dabei müssen insbesondere der Schutz der Zivilbevölkerung und die Klimaverträglichkeit gewährleistet werden.

Am 28. November nahmen äthiopische Truppen Mekelle ein, die Hauptstadt der Provinz Tigray im Norden von Äthiopien und am 7. Dezember erklärte die Regierung in Addis Abeba die ‚aktive‘ Phase der Militäroperation für beendet. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten kam es zu einer größeren Militäroperation am Horn von Afrika, zwanzig Jahre nachdem sich Äthiopien und Eritrea 1998-2000 einen blutigen Grenzkrieg geliefert hatten, der über 100,000 Opfer forderte und umfangreiche Deportationen auslöste. Die neuesten Ereignisse könnten eine erneute Trendwende für das Horn von Afrika einläuten, nachdem die Region kürzlich zum Hoffnungsträger avanciert war: Premierminister Abiy Ahmed wurde 2019 der Friedensnobelpreis für seine Annäherung mit Eritrea verliehen; der Sudan schüttelte die Herrschaft von Umar Al-Bashir ab und schloss mit führenden Rebellengruppen Frieden; und im Südsudan gelang eine Koalitionsregierung der beiden Hauptkontrahenten.

Wenngleich eine verlustreiche Belagerung von Mekelle vermieden wurde, birgt die Region ein enormes Konfliktpotenzial. Die Gewalt in Nordäthiopien kann auf Nachbarstaaten übergreifen und regionale Instabilität bewirken, wie am 28. November deutlich wurde, als weitere Raketen aus Tigray am Flughafen von Asmara, der Hauptstadt des benachbarten Eritrea einschlugen. Für Deutschland ist das Horn von Afrika eine prioritäre Region in Afrika. Seit 2019 besteht eine Reformpartnerschaft Deutschlands mit Äthiopien. Außenminister Heiko Maas war neben seinem US-Kollegen Mike Pompeo am 6. November einer der ersten Politiker, der zwei Tage nach dem Einmarsch in Tigray einen sofortigen Waffenstillstand forderte und zu einer friedlichen Lösung aufrief. Wie steht es nun nach drei Wochen Krieg um die Bemühungen für eine friedliche Streitbeilegung mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft und was sollte Deutschland speziell dazu beitragen?

Kein schnelles Ende des Konflikts absehbar

Alles deutet darauf hin, dass die Eskalation in Nordäthiopien keineswegs eingedämmt ist. Expert*innen sehen kein rasches Ende der Kampfhandlungen, da die TPLF-Partei (Tigray People's Liberation Front) weiterhin über ein erhebliches Waffenarsenal verfügt. Der TPLF-Führer kann einen Guerillakrieg im zerklüfteten Terrain beginnen, womit die TPLF bereits reichlich Erfahrung gesammelt hat. Sollte der Konflikt außer Kontrolle geraten, so steht der Zusammenhalt Äthiopiens selbst auf dem Spiel, mit gravierenden Folgen für die gesamte Region. Nicht nur die Eskalation in Nordäthiopien, auch schon die Unruhen in der äthiopischen Provinz Oromia im Frühjahr und Sommer 2020 sind ein Anzeichen für die fragile politische Lage im Land.

Prekäre „Menschliche Sicherheit“ und mangelnde wirtschaftliche Resilienz schwächen Äthiopien

Die Bevölkerung von Tigray war bereits vor dem Konflikt durch den Klimawandel vermehrt mit Dürreperioden und Ernährungsengpässen konfrontiert. In Tigray leben zudem 96,000 Flüchtlinge aus Eritrea im Lager von Shimelba und drei weiteren Lagern sowie in den Städten. Erst am 2. Dezember stimmte die Regierung von Tigray der Öffnung eines humanitären Korridors zu und gewährte uneingeschränkten Zugang für Hilfsorganisationen – nach eindringlicher Fürsprache der UN. „Menschliche Sicherheit“ ist daher prekär und es bedarf schneller Normalisierung, um weitere Gewalt zu verhindern, gerade zwischen ethnischen Gruppen auf kommunaler Ebene.

Der Konflikt hat auch die Aussichten der von der Pandemie betroffenen äthiopischen Wirtschaft weiter eingetrübt. Nach Prognosen des Weltwährungsfonds liegt das Wachstum 2020 bei nur 1.9% und bei null für 2021. Besonders jüngere Leute haben geringe Aussichten auf Jobs und sind daher leicht für lokale Milizen und militante politische Parteiorganisationen zu gewinnen. Ebenso trifft der Konflikt das Unternehmertum in Äthiopien, für das Firmen aus Tigray traditionell eine wichtige Rolle spielen.

Das Eskalationspotenzial in der Region bleibt hoch

Unmittelbar betroffen von der aktuellen Krise ist der Sudan, wo rund 45,000 Flüchtlinge aus Tigray Zuflucht gesucht haben und UNHCR zusätzlich 150 Millionen US-Dollar für Nothilfe anfordern musste. Sudan steht noch am Anfang seiner politischen Transformation und hat viele irreguläre bewaffnete Gruppen, die sich die Gewalt jenseits der Grenze zu Nutze machen können. Ebenso ist eine Schwächung der äthiopischen Militärpräsenz in Somalia ein Risikofaktor, da die Terrorgruppe Al-Shabaab dort während der sensiblen Vorwahlperiode für 2021 erneut an Einfluss gewinnen kann.

Nicht zuletzt kann sich die rein taktische Annäherung zwischen Äthiopien und Eritrea seit 2018, die auf gemeinsamen Differenzen mit der TPLF beruht schnell umkehren. Zwar verstärkte die Regierung von Eritrea ihre militärische Präsenz offenbar erheblich mit Truppen aus der Zentralregion um Asmara während der Offensive in Tigray und leistete Äthiopien Rückendeckung; nach unbestätigten Berichten sollen Kampfdrohnen vom Territorium Eritreas aus eingegriffen haben. Der autokratische Präsident Eritreas hat seine regionalen Ambitionen aber nicht aufgegeben. Strategische Orte an der Grenze mit Äthiopien wie etwa der Ort Badme sind noch immer umstritten, da es keine demarkierte Grenze gibt. Der ehemalige Verteidigungsminister von Eritrea, Mesfin Hagos, hat das Ausmaß dieser militärischen Kooperation zwischen Äthiopien und Eritrea detailliert beschrieben.

In der Region gilt Djibouti als relative Oase der Sicherheit, nicht zuletzt wegen der fünf ausländischen Militärbasen, die nahe der strategisch wichtigen Wasserstraße von Bab-el-Mandeb liegen. Nach dem Ende des Grenzkriegs zwischen Äthiopien und Eritrea konnte Djibouti unter Ägide der Mission der Vereinten Nationen in Äthiopien und Eritrea (UNMEE) Gespräche zur militärischen Vertrauensbildung unterstützen.

Zahlreiche internationale Vermittler stehen bereit  

Der Konflikt in Nordäthiopien veranschaulicht einmal mehr die Schwächung des Multilateralismus. Durch die Polarisierung im UN-Sicherheitsrat dauerte es Wochen, bis sich das Gremium mit der Lage in Tigray befasste, trotz Initiativen der ‚A3-Gruppe‘ afrikanischer Mitglieder im Sicherheitsrat. Premier Abiy hatte wiederholt deutlich gemacht, dass Äthiopien den Konflikt als „Polizeiaktion“ gegen abtrünnige TPLF-Führer betrachtet und internationale Einmischung ablehnt.

Ein Gremium von drei hochrangigen Vermittlern der Afrikanischen Union (AU) wurde am 21. November vom Vorsitzenden der AU, dem südafrikanischen Präsidenten Cyril Ramaphosa, bestätigt. Es kam jedoch bislang zu keinen Gesprächen zwischen der Regierung in Addis Abeba und der TPLF-Führung. Die TPLF signalisierte bedingte Bereitschaft zum Dialog, aber die Fronten bleiben insgesamt verhärtet. Die regionale Staatengemeinschaft IGAD (Intergovernmental Authority on Development; derzeit unter dem Vorsitz von Sudan) hatte zuerst im Vorfeld der AU- Initiative zu Gesprächen sondiert, war aber ebenso von Äthiopien abgewiesen worden. Es gibt Stimmen, die der AU eine Doppelmoral und Versagen vorwerfen, weil der Eindruck entsteht, dass die AU aus Rücksicht auf Äthiopien als Gaststaat für das AU-Hauptquartier keine robusteren Maßnahmen ergreift.  

Nach Konsultationen mit dem äthiopischen Vizepremier nominierte die EU den finnischen Außenminister Pekka Haavisto als Sondergesandten für den Konflikt. Für das Horn von Afrika unterhalten sowohl die UN als auch die EU Gesandte in Addis Abeba und Nairobi. Als einflussreicher Partner Äthiopiens waren die USA zwar zunächst skeptisch gegenüber Mediation; seit Ende November ist jedoch ein gewisser Positionswandel erkennbar. Amerikanische Expert*innen haben einen Dreipunkteplan als Wegweiser zu nationaler Versöhnung und Verfassungsreform erarbeitet.

Deutschland sollte seine Mediationserfahrungen nutzen und Finanzmittel zur Verfügung stellen

International gehören Krisenprävention und friedliche Konfliktlösung bzw. Mediation längst zum Standardwerkzeug der modernen Diplomatie. Diesen Prinzipien hat sich auch Deutschland verschrieben und sie durch die Leitlinien der Bundesregierung zur Krisenprävention und Friedensförderung seit 2017 ausgestaltet. Dabei gewinnt der Aspekt des „Environmental Peacebuilding“ besondere Bedeutung für Tigray.

Aus den beschriebenen Risiken in Nordäthiopien lassen sich Ansatzpunkte gewinnen, um eine AU-Mediation nach der Devise „afrikanische Lösungen für afrikanische Probleme“ zu befördern. Dies kann gelingen, wenn vertrauensbildende Maßnahmen und Anreize zur Normalisierung in Nordäthiopien geschaffen werden. Die Bundesregierung sollte deswegen folgende konkrete Maßnahmen sicherstellen:

  1. Die Bundesregierung sollte sofort technische Hilfe und Finanzmittel für den neuen humanitären Korridor nach Tigray bereitstellen, um die essentielle Notversorgung für die gefährdete Bevölkerung zu gewährleisten. Dies befördert auch den Informationsfluss und stärkt damit die Gefahren-Früherkennung.
  2. Im Rahmen einer EU-Fachgruppe sollte Deutschland seine Expertise für ein Inventar der schweren Waffen des „Northern Command“ der äthiopischen Armee und illegaler Waffenlager der TPLF bereitstellen. Die Bundesregierung sollte sich für eine sichere Lagerung sowie ein Inspektionsregime einsetzen, gegebenenfalls mit internationalen Beobachter*innen. Dadurch wird das Potenzial grenzübergreifender Konflikte reduziert und dem Waffenschmuggel in labilen Grenzregionen vorgebeugt.
  3. Deutschland sollte im Rahmen einer EU-Fachgruppe mit seiner Expertise an der Ausarbeitung von Prinzipien zur Sicherheitssektorreform in den betroffenen Gebieten mitwirken, besonders für äthiopische Milizen und Polizeikräfte. Dazu gehört auch deren Ausbildung für den Schutz der Zivilbevölkerung. Dies bietet eine Plattform für gemäßigte Kräfte der TPLF, um guten Willen zu zeigen, und fördert den Reformkurs in Äthiopien durch professionelle Zusammenarbeit.
  4. Die Bundesregierung sollte finanzielle Mittel für Sofortprojekte zur Wiederherstellung von Infrastruktur und der Normalisierung in Tigray und an den Grenzen zusichern, einschließlich für Selbsthilfe zum Wiederaufbau von Wohnhäusern und intensiven Straßenbaumaßnahmen für Transportkorridore (basierend auf Planungen der Weltbank und der African Development Bank).
  5. Deutsches Fachwissen in der Entwicklungszusammenarbeit sollte an die Planungsgremien in Tigray herangetragen werden, speziell mit dem Ziel, den Wiederaufbau langfristig mit Klimaverträglichkeit zu verbinden. Dies gibt Impulse für nachhaltiges Wirtschaftswachstum landesweit und mindert politische Polarisierung.
Stabilisierung Frieden & Sicherheit Afrika

Matthias Leitner

Matthias E. Leitner war von 1997 bis 2019 in OSZE- und UN-Friedensmissionen tätig, unter anderem als Stabschef der Politischen UN-Mission in Guinea-Bissau (Westafrika). Er hat kürzlich mit IGAD in Addis Abeba (Äthiopien) ein EU-Trust Fund-Projekt (ADA Österreich) im Bereich Frieden und Sicherheit durchgeführt.