Mandatsverlängerung ins Ungewisse: Impulse für Deutschlands Engagement in Afghanistan 18. März 2021 · Magdalena Kirchner Die Verlängerung des Bundeswehrmandates lässt viele Fragen über die Gestaltung eines langfristigen Engagements für Frieden in Afghanistan offen. Die Bundesregierung sollte sich zukünftig stärker mit europäischen Partnern abstimmen, ein militärisches Engagement im Rahmen einer UN-Friedensmission in Betracht ziehen und zivile Unterstützung in angepasster Form fortsetzen. Debatten Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern Prioritäten bis 2021 Wieder einmal stimmt der Bundestag über die Teilnahme der Bundeswehr an der NATO-Mission Resolute Support (RSM) in Afghanistan ab. Vor dem Hintergrund der anstehenden Bundestagswahl und der großen Unsicherheit über den geplanten Abzug der USA gilt eine Verlängerung zunächst nur für zehn statt der zuvor üblichen zwölf Monate. Diese ist zwar notwendig, um dem Einsatz einen verlässlichen rechtlichen Rahmen zu geben. Aber gleichzeitig geht von dem entsprechenden Antrag der Bundesregierung ein bewusstes Signal der (Noch-)Nichtentscheidung aus. Wenn Deutschland sich langfristig für Frieden in Afghanistan engagieren will, muss Berlin sich in Zukunft stärker mit anderen europäischen Partnern abstimmen. Die deutsche Afghanistanpolitik wurde in den letzten vier Jahren auch von der „Angst vor dem nächsten Tweet“ beeinflusst. In der neuen US-Administration sieht Berlin nun einen verlässlicheren Partner. Ein Zurück zum Status Quo Ante mit Blick auf Afghanistan wird es jedoch auch mit der neuen US-Regierung nur bedingt geben können. Wenn Deutschland sich langfristig für Frieden in Afghanistan engagieren will, muss Berlin sich in Zukunft stärker mit anderen europäischen Partnern abstimmen, darf ein militärisches Engagement über den NATO-Einsatz hinaus nicht ausschließen und sollte zivile Unterstützung in angepasster Form fortsetzen. Staatszerfall riskieren oder Rückzug vom Abzug Bis vor einigen Monaten hatten sich Hinweise darauf verdichtet, dass die Bundesregierung das im Abkommen zwischen den Taliban und der US-Regierung vereinbarte Abzugsdatum für alle US- und NATO-Truppen vom 31. April ernst nehme und entsprechende Reduzierungen vornahm. Insbesondere, da die Regierung Donald Trumps die Zahl der eigenen Kräfte im Land ungeachtet der im Abkommen enthaltenen Bedingungen bereits von 13.000 auf den niedrigsten Stand seit 2001 mit 2.500 im Januar 2021 reduziert hatte. Ohne die USA ist eine Fortsetzung des Einsatzes weder logistisch noch politisch machbar, was unilaterale Tendenzen in der US-Afghanistanpolitik noch weiter verstärkt haben dürfte. Mit dem Wechsel im Weißen Haus und angesichts der anhaltenden Gewalt ist der Abzug zum Erliegen gekommen. Der Wahlsieg Joe Bidens hat eine neue Tonlage in das transatlantische Verhältnis gebracht, aber nicht mehr Planungssicherheit in Afghanistan. Im Wahlkampf hatte sich Biden gegen die Fortsetzung des Einsatzes ausgesprochen. Gleichzeitig hatte Trump ihm den „Gefallen“ eines vollständigen Abzugs nicht getan. Biden steckt nun im Dilemma – Kurs halten und den Zusammenbruch der afghanischen Regierung in Kauf nehmen oder ein Rückzug vom Abzug? Stabilität um jeden Preis, oder Demokratie und Menschenrechte Viele NATO-Partner der USA, darunter Deutschland, aber auch Regionalstaaten wie Indien und zentralasiatische Staaten, werben offen für die zweite Variante – einerseits aufgrund der Tatsache, dass die Folgen eines möglichen Staatszerfalls dort unweit stärker zu spüren sein werden als auf der anderen Seite des Atlantiks, andererseits, da die Begründung des militärischen Einsatzes beispielsweise in der deutschen Diskussion auch heute noch wesentlich stärker von entwicklungspolitischen Zielen geprägt ist als in den USA. Es ist Zeit, die alte Überzeugung, Deutschlands Engagement sei ein Auswuchs transatlantischer Solidarität, an den sprichwörtlichen Nagel zu hängen. Im transatlantischen Bündnis herrscht Uneinigkeit mit Blick darauf, welche Errungenschaften der letzten 20 Jahre um welchen Preis erhalten werden sollen. Mehrfach, wie zuletzt Anfang März 2021, brachte Washington in den letzten Jahren die Idee einer Übergangsregierung und damit die Aussetzung von Wahlen in Afghanistan ins Gespräch. Diese solle sowohl die Taliban als auch Vertreter der Regierung und Opposition in Kabul zusammenbringen – und einen raschen Abzug ermöglichen. Der Vorstoß stieß bei den europäischen Partnern auf vorsichtige Kritik: Nach 20 Jahren Demokratieförderung Macht in Afghanistan nun nicht mehr über Wahlen, sondern am Konferenztisch vergeben? Die Bewahrung von Frauen- und Menschenrechte und eine freie Presse in die Hände von Warlords legen? Eine eigenständige Europäische Afghanistanpolitik formulieren Es ist Zeit, die alte Überzeugung, Deutschlands Engagement sei ein Auswuchs transatlantischer Solidarität, an den sprichwörtlichen Nagel zu hängen. Denn Europa kann den Aufbau funktionierender Staatlichkeit als sein primäres Ziel in Afghanistan weder kurzfristig erreichen, noch - bei aller „Afghanistanmüdigkeit“ - aufgeben: Schon heute sind Afghan_innen die größte Gruppe von Asylsuchenden auf den griechischen Inseln. Die steigende Armut überall im Land wird ein Nährboden für Gewalt und Radikalisierung bleiben, selbst wenn sich die Taliban zu einem offenen Bruch mit Al-Qaida entschließen. Anschläge des selbst ernannten Islamischen Staates stellen dies seit 2015 immer wieder unter Beweis. Diese Bedrohungswahrnehmung teilen viele Nachbarstaaten Afghanistans, zu denen die EU sehr gute Beziehungen hat – zumindest bessere, als die USA derzeit. Daher sollten die europäischen Partner den seit 2011 bestehenden Istanbul Prozess, der alle Anrainerstaaten und Stakeholder in einen multilateralen Austausch miteinander bringt, stärker nutzen. Afghanistanpolitik und Einsatz an die Verhältnisse vor Ort anpassen Das tatsächliche Mandat der Bundeswehrsoldat_innen ist, wie im Antrag der Bundesregierung selbst vermerkt, geographisch und operativ „begrenzt“ – vor allem wenn ein Rückzug vom Abzug einen Anstieg von Angriffen auf internationale Ziele zur Folge haben könnte. Expert_innen und politische Entscheidungsträger_innen sind sich darin einig, dass der Konflikt militärisch nicht zu gewinnen und die Taliban nicht zu besiegen sind. Die Bewegung und mit ihr verbündete Kräfte kontrollieren mehr als die Hälfte des Staatsgebiets und damit etwas weniger als die Hälfte der Bevölkerung. Die hohe Zahl von Gefechten zwischen Taliban und regulären Sicherheitskräften, die Corona-Pandemie und die Verlegung der Bundeswehr aus Kundus nach Masar-e-Sharif zum Jahresende 2020 haben die Ausbildungsmission zuletzt eingeschränkt. Unter diesen Bedingungen fällt es schwer, einen Anspruch daran zu formulieren, was die Soldat_innen vor Ort eigentlich leisten sollen. Statt die Mission der Bundeswehr wie schon so oft in der Vergangenheit mit politischen Zielen zu überfrachten oder mit Blick auf ihre Wirkung vor Ort zu überhöhen, sollte die Bundesregierung sicherheits- und entwicklungspolitische Instrumente sowohl an die mittel- und langfristigen Entwicklungen vor Ort anpassen. 1. Militärische Unterstützung für die Demobilisierung durch UN-Friedensmission Nach dem Doha-Abkommen soll am Ende der innerafghanischen Gespräche die Bildung einer neuen Regierung mit Beteiligung der Taliban stehen. Selbst unter dem bestmöglichen Szenario einer Verhandlungslösung wird die notwendige Demobilisierung zehntausender Milizionäre und ehemaliger Kämpfer, oder gar (Re-)Integration in die regulären Streitkräfte ohne externe Unterstützung kaum zu bewerkstelligen sein. Das birgt enormes Konfliktpotenzial, auch für Afghanistans Nachbarn. Die Tatsache, dass derzeit mehr europäische als US-amerikanische Soldat_innen in Afghanistan stationiert sind, zeigt, dass es in Europa eine Bereitschaft gibt bei weiterer Präsenz der USA einen stärkeren militärischen Beitrag zu leisten. Die Biden-Administration will nun die Rolle der Vereinten Nationen im Friedensprozess stärken. In einer potenziellen UN-Friedensmission in Afghanistan könnte Deutschland gemeinsam mit anderen europäischen Partnern - wie auch schon auf dem Balkan - helfen, ein zumindest mittelfristig fragiles Abkommen abzusichern. Nach RSM und einer Evaluierung der bisherigen Erfahrungen könnte so durchaus kurz- und mittelfristig die Demobilisierung sowie der langfristige Aufbau inklusiver Polizei- und Sicherheitskräfte unterstützt werden. 2. Zivile Maßnahmen weiterführen – und reformieren Sollte sich die Bundesregierung dazu entscheiden, mit dem Ende von RSM auch das eigene militärische Engagement in Afghanistan zu beenden, sollte sie die Regel des „in together out together“ mit Blick auf den vernetzten Ansatz keinesfalls nach innen anwenden und als eine der wichtigsten Gebernationen zivile Stabilisierungsmaßnahmen einstellen. Aber auch bei zivilen Maßnahmen kann es kein „Weiter so“ geben: Erstens sind die Berichte über Misswirtschaft, Ineffizienz, Korruption und Konditionalisierung als Papiertiger, die die Legitimität der Regierung und externer Hilfen permanent untergraben, alarmierend und europäischen Steuerzahler_innen nicht vermittelbar. Zweitens muss die Bereitschaft, mit den Taliban zu reden und auf dem diplomatischen Parkett zu verhandeln auch Eingang in die Entwicklungspolitik finden, wenn es hier nachhaltige Fortschritte geben soll. Im Doha-Abkommen selbst erklärten die Taliban ihr Interesse daran, nach ihrer Rückkehr an die politische Macht auch wirtschaftlich mit den USA und anderen Gebern zusammen zu arbeiten. In diese Diskussion muss sich Berlin aktiver einschalten, um zu verhindern, dass eine neue Formel der Machtteilung mit einer weiteren Schwächung der effektiven Regierungsführung einhergeht. Alle beteiligten Akteure sollten die Mandatsverlängerung als Zeitgewinn für die Evaluierung und Anpassung der bestehenden Politikinstrumente auf deutscher und europäischer Ebene verstehen. Die Befriedung und langfristige Stabilisierung Afghanistans werden sich nicht in den nächsten zehn Monaten realisieren lassen. Die Bundesregierung sollte daher die Notwendigkeit eines weiteren militärischen Engagements über das aktuelle Mandat hinaus nicht ausschließen. Alle beteiligten Akteure sollten die Mandatsverlängerung als Zeitgewinn für die Evaluierung und Anpassung der bestehenden Politikinstrumente auf deutscher und europäischer Ebene verstehen. Das erlaubt Berlin und seinen europäischen Partnern weiterhin mit der US-Regierung auch über die Ausgestaltung politischer Initiativen im Gespräch zu bleiben und ihre Bereitschaft zu signalisieren, sich auch nach einem Abkommen langfristig für Frieden in Afghanistan zu engagieren. Debatten Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern Prioritäten bis 2021 Friedenseinsätze Afghanistan Stabilisierung Magdalena Kirchner Magdalena Kirchner ist Direktorin des Afghanistan-Büros der Friedrich-Ebert-Stiftung in Kabul. @mag_kir
Artikel Wenn Klimafolgen Konfliktspiralen ankurbeln: Der Fall Afghanistan In Afghanistan verstärken die Auswirkungen des Klimawandels existierende Konfliktgrundlagen und erzeugen einen Kampf um Ressourcen. Diese Dynamik kann nur durch einen erfolgreichen Friedensprozess und den Aufbau der notwendigen Infrastruktur abgefedert werden. Dafür sollte Deutschland seine Klimaexpertise in Friedensverhandlungen einbringen und technische Unterstützung liefern. Hans-Joachim Giessmann, Charlotte Hamm • 11. März 2021
Podcast S3E2 | COVID-19, Friedensverhandlungen und die deutsche Politik in Afghanistan In dieser Folge spricht Sarah Brockmeier mit Dr. Magdalena Kirchner, Leiterin des Afghanistan-Projekts der Friedrich-Ebert-Stiftung. Sie diskutieren die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf Afghanistan, den Stand der Friedensverhandlungen und Politikoptionen für Deutschland nach dem bevorstehenden Abzug der amerikanischen Truppen aus dem Land. PeacebyPeace • 02. Juni 2020
Artikel Afghanistan: Der Ansatz „Viel hilft viel“ ist gescheitert Im Auftrag des BMZ haben renommierte Experten das langjährige Engagement internationaler Geber in Afghanistan in einer Meta-Review ausgewertet. Die Review zeigt unter anderem, dass bescheidene, lokal eingebettete Projekte am besten funktionieren. Für internationale Geber gilt es, sich zukünftig realistischere Ziele zu setzen und mehr Wert auf Wirksamkeit und Nachhaltigkeit zu legen. Thomas Feidieker • 15. Juni 2020