Wenn Klimafolgen Konfliktspiralen ankurbeln: Der Fall Afghanistan

11. März 2021   ·   Hans-Joachim Giessmann, Charlotte Hamm

In Afghanistan verstärken die Auswirkungen des Klimawandels existierende Konfliktgrundlagen und erzeugen einen Kampf um Ressourcen. Diese Dynamik kann nur durch einen erfolgreichen Friedensprozess und den Aufbau der notwendigen Infrastruktur abgefedert werden. Dafür sollte Deutschland seine Klimaexpertise in Friedensverhandlungen einbringen und technische Unterstützung liefern.

Der Klimawandel ist weder ein nationales Phänomen noch eine auf einzelne Staaten begrenzte Herausforderung. Folgen des Klimawandels können zeitlich verzögert bzw. räumlich getrennt von Ursache und Wirkung an manchen Orten schneller oder stärker zu verspüren sein. Unterschiede von weniger als einem Grad Celsius in der Jahresbilanz oder wenigen Zentimetern im Niveau des Meeresspiegels entscheiden in manchen Regionen über Leben und Überleben, von wirtschaftlicher und sozialer Existenz zu schweigen. Die Verantwortung, Auswirkungen des Klimawandels zu bewältigen, kann nicht allein den Menschen in betroffenen Regionen übertragen werden. Auf die Waage politischer Verantwortung gehört neben den ethischen Verpflichtungen des Miteinanders auch das Verursacherprinzip, um negative Folgen des Klimawandels abzumildern und den Risiken einer weiteren Destabilisierung des Weltklimas entgegenzuwirken. Dies gilt auch – und nicht zuletzt – bei den Verflechtungen zwischen der Klimaveränderung und der Ausbreitung politischer und sozialer Gewalt.

In der Islamischen Republik Afghanistan, die seit Jahrzehnten durch bewaffnete Auseinandersetzungen geprägt ist, treten zudem die Folgen des Klimawandels immer deutlicher zutage. Was kann und was sollte Deutschland unternehmen, um Afghanistan zu unterstützen, die durch die Gleichzeitigkeit von Konflikt und Klimawandel entstandene doppelte Herausforderung zu meistern?

Die Auswirkungen des Klimawandels erzeugen zusätzliche Konflikte um Ressourcen

In kaum einem Land wird der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Konflikt so deutlich wie in Afghanistan. Dort wütet seit 40 Jahren ein brutaler Krieg. Ein Land, das selbst kaum zum globalen Klimawandel beigetragen hat, ist innerhalb seiner Grenzen stark und unmittelbar von den Auswirkungen der Erwärmung betroffen. Ein UNDP-Bericht von 2018 betont, dass in Afghanistan über 80% der Bevölkerung von der Landwirtschaft abhängig sind. Sturzfluten, Erdbeben und Erdrutsche, provoziert durch das Gletscherschmelzen, sowie Dürren und extreme Temperaturen erschweren diese Arbeit zunehmend. Diese Dynamiken werden sich auch im kommenden Jahr fortsetzen. Dürre und der Ernteausfall, so die Sorge, können eine landesweite Hungersnot auslösen.

Jahrzehntelange Waldrodung und ausgetrocknete Flüsse führen zu immer knapper werdendem Ackerland und provozieren, neben den ohnehin seit Jahrzehnten schwelenden Auseinandersetzungen im Lande, zusätzliche Konflikte zwischen Gruppen, welche um fruchtbares Land und Ressourcenzugang streiten, und die oft gewaltsam ausgetragen werden. Laut den Vereinten Nationen sind 41% der Afghanen und Afghaninnen direkt von diesen Land- und Ressourcenkonflikten betroffen.

Klimafolgen verstärken Armut und organisierte Kriminalität und befeuern so den Konflikt in Afghanistan

Diese Konfliktkatalysatoren wirken vor dem Hintergrund einer andauernden Konfliktzerrissenheit, einer anfälligen, teilweise dysfunktionalen Infrastruktur und der geschwächten Regierung in Kabul, die über kaum mehr als die Hälfte des Territoriums Kontrolle ausübt. Darüber hinaus wächst unter den gegebenen Bedingungen das Armutsrisiko in Afghanistan. Nach Angaben des UNDP leben bereits 56% der Gesamtbevölkerung Afghanistans unterhalb der Armutsgrenze. Armut wiederum erleichtert es oppositionellen Organisationen, Kämpfer aus dörflichen Gemeinschaften zu rekrutieren. Viele sehen für sich oder ihre Familien keine andere Perspektive, als sich in der Konkurrenz um limitierte Ressourcen, sei es um den Preis von Tot und Verlust, mit Waffengewalt zu behaupten. 

In anderen Fällen begünstigt das Zusammenspiel von Klimawandel und schwacher Regierungsführung die Hinwendung zur Schattenwirtschaft, um das eigene Überleben zu sichern. Organisierte kriminelle Strukturen erleichtern diese Entwicklung; der Profit aus dem Drogenhandel kommt allerdings nicht den lokalen Produzenten zugute. Was bleibt ihnen übrig, wenn infolge des Wassermangels der Anbau von Schlafmohnpflanzen fruchtbringender ist als die Getreidewirtschaft und Alternativen zu illegalen Märkten kaum in Aussicht stehen? Die bewaffneten Konflikte haben das Problem nur verschärft. Fast alle Rohstoffe des weltweiten Heroinmarktes sind inzwischen afghanischen Ursprungs. Der vom Krieg zutiefst geschwächte Staat, kann die etablierten kriminellen Strukturen kaum bekämpfen, zumal die meisten Standorte der Produktion außerhalb seiner Kontrolle liegen. Das Machtvakuum, das durch den geschwächten Staat entsteht, wird zum Teil durch organisierte kriminelle Gruppen gefüllt, die aus Gewinninteresse Konfliktbewältigung, Staatsaufbau und Entwicklungsprojekte verhindern und dadurch gewaltsame Konflikte vorantreiben.

Nur ein erfolgreicher Friedensprozess kann die Klimafolgen abfedern

Wie soll sich ein von Krieg heimgesuchtes, intern zerstrittenes und zutiefst geschwächtes Afghanistan den Herausforderungen des Klimawandels stellen? Die afghanische Regierung zeigt sich zwar bemüht, langfristige Strategien zu entwickeln, um die effektive Regierungsstrukturen herzustellen und wirtschaftliche Aktivitäten anzukurbeln. Um die kumulierenden Klimafolgen für das ganze Wirtschaft- und Verteilungssystem des Landes abzufedern, würden aber funktionierende staatliche Strukturen benötigt. Wie soll die Resilienz dieser Strukturen erreicht werden, wenn die Infrastruktur durch Kampfhandlungen vielfach nicht nur beschädigt ist, sondern von manchen Parteien sogar gezielt angegriffen wird, um andere Parteien zu treffen oder Teile der von ihnen kontrollierten Bevölkerung einzuschüchtern? Nur ein friedliches Afghanistan würde ermöglichen, dass die Infrastruktur dauerhaft erhalten und verbessert wird sowie Grundlagen für eine effektive Zusammenarbeit im Interesse gesicherten gemeinsamen (Über-)Lebens entstehen können.

Der afghanische Friedensprozess bietet Grund zur vorsichtigen Hoffnung. Allein die Tatsache, dass alle relevanten afghanischen Interessengruppen, angefangen von der Regierung, den politischen Parteien, Vertretern und Vertreterinnen der Zivilgesellschaft bis hin zur Taliban-Bewegung, eingewilligt haben, den Versuch zu unternehmen, die bewaffneten Auseinandersetzungen zu beenden und nach Lösungen für eine gemeinsame friedliche Zukunft zu streben, ist ein starkes und zuversichtlich stimmendes Signal. Der Friedensprozess, darunter auch die im September 2020 begonnen Verhandlungen zwischen den Parteien, steckt aber noch in den Anfängen. Das wechselseitige Misstrauen ist hoch, ein Waffenstillstand von Dauer ist aktuell noch nicht in Sicht. Aber es ist ein Anfang und letztlich können nur die verschiedenen afghanischen Parteien selbst die Ursachen für die zwischen ihnen liegenden Spannungen lösen.

Als Gastgeber der Petersberger Konferenz im Dezember 2001, Partnernation der NATO-Mission Resolute Support und zweitgrößter Geldgeber verbindet Deutschland und Afghanistan eine lange und historische Freundschaft. Die Sonderrolle, die Deutschland dadurch in den Augen vieler Afghaninnen und Afghanen zukommt, bringt eine besondere Verantwortung mit sich, dem Land beiseite zu stehen. Möglichkeiten zur Unterstützung gibt es.

1. Deutschland sollte seine Klimaexpertise in den Friedensverhandlungen einbringen

Derzeit unterstützt die Bundesregierung, in Zusammenarbeit mit anderen Nationen, aktiv die Verhandlungen zwischen den Delegationen Afghanistans und der Taliban-Bewegung. Die deutsche Berghof Foundation berät den Verhandlungsprozess als unparteiliche Nichtregierungsorganisation vor Ort ebenfalls. Fachexpertise in einem breiten Themenspektrum zur Konfliktbeendigung wird von den verhandelnden Parteien direkt nachgefragt. Die hervorragende Klimaexpertise Deutschlands sollte beratend in den Verhandlungsprozess eingebracht werden. Ähnliches trifft auf Folgerisiken zu, insbesondere Fragen der Binnenmigration und Urbanisierung, der Anpassung des Wirtschafts- und Verteilungssystems an neue Herausforderungen sowie des Einsatzes moderner Umwelttechnologien zur Minderung umweltschädlicher Einflüsse.

2. Die Bundesregierung sollte den Wiederaufbau in Afghanistan unterstützen

Für die Rekonstruktion bzw. den Neuaufbau der Infrastruktur im Bereich der Transport-, Wasser- und Energieanlagen, die seit vielen Jahren durch den anhaltenden Krieg beschädigt wurden, wird vor allem fachliche Expertise, aber auch Unterstützung beim Zugang zu finanziellen und materiellen Ressourcen benötigt. Um die Konditionen für die Zuwendung insbesondere finanzieller Mittel erfüllen zu können, sollte die Bundesregierung Afghanistan dabei unterstützen, eine zuverlässige und transparente Kontrolle von Zu- und Abflüssen dieser Mittel sowie deren sparsame und zweckgerechte Verwendung sicherzustellen.

3. Deutschland sollte nachhaltige Entwicklungsprojekte in Afghanistan fördern

Viele Friedensabkommen scheitern in der Umsetzungsphase. Scheitern die Friedensprozesse, schwindet zumeist auch das Interesse an Unterstützung und Zusammenarbeit seitens internationaler Akteure und schon bereitgestellte Ressourcen werden nutzlos. Deutsches Fachwissen in der Entwicklungszusammenarbeit sollte sich auf strukturbildende Projekte fokussieren, welche die Resilienz der Wirtschaft unter Anwendung klimaverträglicher Kriterien nachhaltig fördern. Die klimabezogene Zusammenarbeit sollte in regelmäßige Regierungskonsultationen aufgenommen werden. Deutschland sollte Zuwendungen an Bedingungen wie erneuerbare Energien, nachhaltige Landwirtschaft und Verringerung von Emissionen durch Entwaldung knüpfen und Afghanistan entsprechend dabei unterstützen.

4. Die Bundesregierung sollte fachliche und technische Unterstützung leisten

Die besonders akut erkennbaren Folgen des Klimawandels verdienen vordringliche Beachtung. Der Bundesregierung wird eine enge Zusammenarbeit mit afghanischen Experten und Expertinnen zur Erhebung und Verarbeitung von Daten zum Klimawandel und dessen Folgerisiken in Afghanistan empfohlen. Der Aufwand hierfür wäre überschaubar und könnte Teil der Entwicklungszusammenarbeit beider Länder sein. Die Zusammenarbeit könnte in Form einer institutionalisierten oder projektfinanzierten Kooperation zwischen zwei oder mehreren einschlägig befassten wissenschaftlichen Einrichtungen beider Länder stattfinden. Auch benachbarte Länder könnten eingebunden werden, nicht zuletzt als Beitrag zur Stärkung eines friedlichen regionalen Umfelds für Afghanistan auf seinem Weg zum Frieden.

5. Deutschland sollte die Bearbeitung von Klimasicherheitsrisiken in multilateralen Formaten fördern

Der gleichzeitige Umgang mit den Herausforderungen von Klimawandel und Konflikt in Afghanistan könnte ein Modell für effektive Zusammenarbeit und Multilateralismus im globalen Maßstab werden. Deutschland sollte sich dafür einsetzen, die Verknüpfung der beiden Herausforderungen in bestehende multilaterale Formate einzubringen und kollektive Unterstützungsprojekte zur Prävention und Transformation von durch Klimawandel induzierten Risiken anregen. Da Klimawandel tendenziell zum Hauptgrund für Flucht, Vertreibung und (illegale) Zuwanderung wird, betrifft die Verknüpfung der beiden Themen nicht nur die Interessenlage dritter Staaten, sondern in direkter Weise auch Deutschland. Solidarischer Multilateralismus kommt immer auch eigenen Interessen zugute. Der erforderliche Aufwand hierfür wäre vor allem politischer Natur.

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Afghanistan Friedensförderung Klimawandel

Hans-Joachim Giessmann

Hans-Joachim Giessmann ist Director Emeritus der Berghof Foundation und Senior Advisor für das Afghanistanteam. @hjgiessmann

Charlotte Hamm

Charlotte Hamm ist Junior Project Managerin des Afghanistanprojekts bei der Berghof Foundation. @CJMHamm