Schutzzonen: Ist die Bundeswehr einsatzfähig?

23. Juni 2021   ·   Erhard Bühler

Zweifel an der Einsatzfähigkeit der Bundeswehr übersehen Fortschritte in ihrer Ausrichtung und Ausstattung, die einen Beitrag zu Schutzzonen bereits heute ermöglichen. Um Massenverbrechen entsprechend deutscher Staatsraison verhindern zu können, sollte die neue Bundesregierung das geplante Fähigkeitsprofil voll realisieren und die nötige Finanzierung garantieren.

Im Februar 2021 hat der Beirat der Bundesregierung für Zivile Krisenprävention und Friedensförderung eine Studie zur möglichen Einrichtung von Schutzzonen herausgegeben. Die Verfasser verstehen Schutzzonen als ein geographisch, zeitlich und in ihrer Wirkung begrenztes Mittel zum Schutz bedrohter Zivilbevölkerungen vor Massenverbrechen. Sie untersuchen detailliert die praktischen und politischen Möglichkeiten, Grenzen und Dilemmata ihrer Einrichtung. Ausgehend von der These „wer Schutz verspricht, muss ihn auch durchsetzen“ fordern sie einen militärischen Beitrag Deutschlands mit dem Ziel, dem Anspruch von Internationaler Schutzverantwortung im Sinne der ultima ratio Gestalt zu geben. Entsprechend appellieren sie an die Parteien, diesen Anspruch in den kommenden Koalitionsvertrag aufzunehmen.

Was die militärischen Fähigkeiten der Bundeswehr für einen substantiellen Beitrag zu Schutzzonen angeht, ist eine gewisse Skepsis erkennbar. Zwar stellt die Studie die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr nicht in Abrede, sieht aber Untersuchungsbedarf. Auch in Anbetracht des im neuen Bundestagswahlprogramm bekräftigten Bekenntnisses von Bündnis 90/Die Grünen zur Internationalen Schutzverantwortung ist es an der Zeit, sich mit dieser Skepsis zu befassen. 

Internationale Schutzverantwortung: Verpflichtung der Bundesregierung

Bereits im Weißbuch 2016 zur Sicherheitspolitik und Zukunft der Bundeswehr hebt die Bundesregierung das Erkennen, Vorbeugen und Eindämmen von Krisen und Konflikten als eine von fünf strategischen Prioritäten hervor. Noch deutlicher wird sie in den im Juli 2017 verabschiedeten Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“. Diese stellen ein bemerkenswertes, leider viel zu wenig bekanntes Strategiepapier dar, in dem die Bundesregierung „stärker international Verantwortung für Frieden, Freiheit, Entwicklung und Sicherheit zu übernehmen“ als Ziel formuliert und nach eigenem Anspruch den Beginn einer neuen Phase deutscher Friedenspolitik markiert. Krieg und Gewalt zu vermeiden, Völkermord und schweren Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, sowie für bedrohte Minderheiten und Opfer von Unterdrückung und Verfolgung einzutreten, gehört demnach zur deutschen Staatsraison.

Sowohl Leitlinien als auch die vorliegende Studie und das Wahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen berufen sich auf das Konzept der Internationalen Schutzverantwortung (Responsibility to Protect oder R2P). In Kurzform verpflichtet sich die Staatengemeinschaft damit vor dem Hintergrund der Genozide in Ruanda und Srebrenica dazu, Menschenrechtsverletzungen zu unterbinden. Militärische Beiträge sind als ultima ratio – als äußerstes Mittel – denkbar, allerdings nur unter Legitimation des UN-Sicherheitsrates und auf den Schutz vor Verbrechen gegen die Menschlichkeit wie Völkermord und ethnische Säuberungen beschränkt. Die Bundesregierung bekennt sich in den Leitlinien zu ihrer Verpflichtung zur Schutzverantwortung und gehört auf internationaler Ebene der „Gruppe der Freunde der Schutzverantwortung“ an. 

Während in den Leitlinien ein möglicher militärischer Beitrag Deutschlands im Sinne R2P nicht explizit aufgeführt wird und damit Interpretationssache bleibt, werden die Verfasser der Schutzzonen-Studie und das Wahlprogramm von Bündnis 90/Die Grünen konkreter: „Die Anwendung militärischer Gewalt als ultima ratio kann in manchen Situationen notwendig sein, um Völkermord zu verhindern und die Möglichkeit für eine politische Lösung eines Konflikts zu schaffen.“ Umso mehr drängt mit Blick auf die Bundestagswahl im Herbst die Frage nach dem möglichen militärischen Beitrag der Bundeswehr zu Schutzzonen: Kann sie das?

Nur die NATO könnte einen Schutzzoneneinsatz militärisch führen

Für eine Antwort gilt es zunächst, die Vorbedingungen für einen Schutzzonen-Einsatz der Bundeswehr zu klären: eine völkerrechtliche Legitimierung, ein multilateraler, vernetzter und ressortübergreifender Ansatz, ausreichende zivile Kapazitäten, angemessene Finanzierung sowie eine umfassende Strategie, die auch den „desired end state“ eines militärischen Einsatzes und die Phase danach ausreichend definiert. Ferner bedürfte es eines „robusten“ Einsatzes, der zur Trennung von Konfliktparteien und gegebenenfalls zu militärischen Auseinandersetzungen mit jenen – auch staatlichen – Akteuren führen kann, von denen das Verbrechen gegen die Menschlichkeit ausgeht oder unterstützt wird.

Die Vereinten Nationen sind nicht in der Lage, einen solchen Einsatz zur Durchsetzung einer Schutzzone selbst zu führen. Auch die Europäische Union ist es allenfalls unter Rückgriff auf Kapazitäten der NATO. Allein die NATO als militärische, multilaterale Organisation verfügt über die nötige Kommandostruktur und insbesondere eigenen Fähigkeiten in den Bereichen Führung, Aufklärung und Nachrichtenwesen. Weder der militärischen Führung der Vereinten Nationen noch der EU würde ich die Soldaten und Soldatinnen der Bundeswehr heute für einen solchen Einsatz anvertrauen.

Bundeswehr: Trotz „Baustelle“ einsatzfähig 

Die Skepsis gegenüber der Fähigkeit der Bundeswehr, zu Schutzzonen beizutragen, scheint zunächst verständlich. Die Bundeswehr war seit Ende des Kalten Krieges – weit mehr als andere westliche Armeen – von der Abgabe der Friedensdividende betroffen. Eine „Reform“ jagte die andere, teilweise erlebte die Bundeswehr aufgrund der langen Umsetzungsdauer mehrere Reformen gleichzeitig. Aussetzung der Wehrpflicht und Änderungen bei Personal, Material und Organisation ließen die deutschen Streitkräfte im Kontext von Reduzierungen wie eine jahrzehntelange Baustelle erscheinen.

Dazu kamen Herausforderungen in zum Teil jahrzehntelangen Stabilisierungseinsätzen wie in Afghanistan und auf dem Balkan, auf welche die Bundeswehr aus Ressourcengründen zuletzt immer mehr ausgerichtet wurde – sowohl strukturell, wie auch hinsichtlich Ausrüstung und Waffentechnik. Ziel der „Optimierung“ war die Durchhaltefähigkeiten in diesen Einsätzen. Infolgedessen unterblieben Modernisierungen und Investitionen in Bereichen wie der Landes- und Bündnisverteidigung und der Fähigkeit zu hochintensiven Kampfhandlungen überhaupt. Die Führung der Bundeswehr machte zudem ab 2015 eigene Defizite proaktiv öffentlich, um Veränderungsdruck zu erzeugen. Daraufhin wurden der Bundeswehr erhebliche Defizite nachgesagt – oft in einer Absolutheit, die dem tatsächlichen Zustand der Bundeswehr nicht gerecht wurde und wird.

Allerdings vernachlässigen die Skeptiker und Skeptikerinnen die seit 2015 eingeleiteten Änderungen in der konzeptionellen Ausrichtung und nachfolgend personellen und materiellen Ausstattung. Die konzeptionelle Ausrichtung ist abgeschlossen, weitere organisatorische Anpassungen wurden kürzlich mit dem Eckpunktepapier der Verteidigungsministerin und des Generalinspekteurs veröffentlicht. Diese Anpassungen werden, ebenso wie der personelle und materielle Wiederaufwuchs, noch mehrere Jahre in Anspruch nehmen.

Die Bundeswehr kann kurz- und langfristig zu Schutzzonen beitragen

Die Frage, ob die Bundeswehr Beiträge zu Schutzzonen leisten kann, lässt sich folglich unter einem kurz- und einem langfristigen Blickwinkel beantworten. 

Kurzfristig ist die Bundeswehr unter den genannten Annahmen in der Lage, substanzielle Beiträge zu einer politisch vorgegebenen Durchsetzung von Schutzzonen im Sinne der Schutzverantwortung in einem multilateralen Rahmen zu leisten. Dies gilt über alle Dimensionen hinweg, z.B. zur Durchsetzung einer No-Fly-Zone, eines Embargos auf See und auch einer Schutzzone an Land. Innerhalb Deutschlands unterhält die Bundeswehr zudem zum Beispiel Kräfte für die nationale Krisenvorsorge und Spezialkräfte mit sehr kurzer Vorwarnzeit, die ebenfalls mit kurzer Vorbereitungszeit für temporäre Einsätze in einem multinationalen Schutzzonenverband herangezogen werden könnten. Bestehende Hochwertfähigkeiten wie strategischer Lufttransport oder Evakuierung von Verwundeten, Führungspersonal für Hauptquartiere der multinationalen Truppe, Nachrichtengewinnung und Aufklärung vor Ort oder in einer Reach-Back-Funktion aus Deutschland heraus sind multinational ebenfalls hochwillkommen. Defizite hat die heutige Bundeswehr sicher bei der Gestellung von schweren Transporthubschraubern und leistungsfähigen Systemen zur Abwehr von Bedrohungen aus der Luft. 

Der effektive Einsatz der Bundeswehr in einem multinationalen Rahmen war, ist und bleibt eher eine Frage von politischem Willen, Möglichkeiten, Risikoabwägungen und Priorisierungen, als eine Frage der militärischen Fähigkeiten. Selbst bei einer kurzfristig notwendigen Verhinderung von Massenverbrechen sind die Fähigkeiten der Bundeswehr ausreichend, um als ultima ratio gemeinsam mit Partnern eine militärische Drohkulisse aufzubauen und notfalls zu intervenieren.

Dies gilt erst recht mittel- bis langfristig, wenn die eingeleitete Modernisierung und Ausrüstung der Bundeswehr abgeschlossen sein werden. Dann sind größere Truppenteile innerhalb einer multinationalen Schutztruppe denkbar. Solche Einsätze sind im Fähigkeitsprofil der Bundeswehr, das gegenwärtig realisiert wird, berücksichtigt. 

Fähigkeitsprofil realisieren und Finanzierung sicherstellen, um der Staatsraison nachzukommen

Die notwendigen militärischen Fähigkeiten für einen Schutzzoneneinsatz werden aus dem politischen Auftrag im Weißbuch 2016 und den Zusagen an die NATO nach Qualität und Quantität systematisch abgeleitet und fließen in das Fähigkeitsprofil der Bundeswehr ein. Der mögliche Eindruck, die Bundeswehr optimiere sich zurzeit für die Landes- und Bündnisverteidigung, ist falsch. Landes- und Bündnisverteidigung sind lange vernachlässigt worden, stehen aber heute gleichrangig neben den Aufgaben des internationalen Krisenmanagements, zu dem auch Schutzzoneneinsätze gehören. Mit der Realisierung des Fähigkeitsprofils in den nächsten Jahren wird die Bundeswehr ihre Aufgaben vollumfänglich wahrnehmen können. Bei vielen Aufgaben gibt es darüber hinaus Schnittmengen bei den Fähigkeiten. Grundsätzlich gilt: wer die Fähigkeiten zur Landes- und Bündnisverteidigung besitzt, kann auch im internationalen Krisenmanagement eingesetzt werden. Die aufgabengerechte Ableitung der Fähigkeiten und aller daraus resultierenden Beschaffungen sind Markenkern der neuen konzeptionellen Ausrichtung der Bundeswehr.

Aus ihnen ergibt sich ein finanzieller Mehrbedarf für die nächsten Jahre. Die Planerinnen und Planer der Bundeswehr haben sich dabei nicht am 2%-Ziel der NATO orientiert. Dieses war höchstens eine Versicherung der Politik, dass sie hält, was sie verspricht, und die Modernisierung und (Wieder-) Vollausstattung der Bundeswehr fortgesetzt werden kann. Dass die SPD-Führung allerdings in weiten Teilen davon abrückt, obwohl ihre Minister und Verteidigungsexperten das 2%-Ziel mitgetragen haben, enttäuscht. Es erweckt den Eindruck, die finanziellen Mehrbedarfe für die Bundeswehr in den nächsten Jahren würden in Frage gestellt. Dass die Grünen das 2%-Ziel in ihrem Wahlprogramm nicht mittragen, ist nichts Neues. Dass sie die Bundeswehr „entsprechend ihrem Auftrag und Aufgaben personell und materiell sicher ausstatten“ wollen, überrascht jedoch. Denn bei gleichbleibendem Auftrag und den systematisch und nachvollziehbar abgeleiteten Fähigkeiten dazu, wird uns der Finanzbedarf für die nächsten Jahre bei gleichbleibendem Bruttoinlandsprodukt in die Nähe des 2%-Ziels bringen; bei einem fallenden Bruttoinlandsprodukt könnte Deutschland schneller die 2%-Marke überschreiten, als es der Partei lieb sein könnte.

Wer den nötigen Finanzbedarf nicht decken will, muss an der Auftrags- und Aufgabenschraube im Kernbereich der äußeren Sicherheit drehen, sprich Aufträge reduzieren. Wer Aufgaben außerhalb der Landes- und Bündnisverteidigung als Teil der deutschen Staatsraison betrachtet und substantielle, auch militärische, Beiträge für R2P fordert, wird nicht umhinkommen, die Bundeswehr auch entsprechend zu modernisieren und auszurüsten und sich deshalb um eine fortgesetzte, nachhaltige Finanzierung eines aus den Aufgaben abgeleiteten Fähigkeitsprofils der Bundeswehr bemühen müssen. Daran wird deutlich, wer es ernst meint mit „Staatsraison“ und einer „entsprechend ihrem Auftrag und Aufgaben personell und materiell sicheren Ausstattung“.

Friedenseinsätze Bundeswehr R2P

Erhard Bühler

Erhard Bühler war als General der Bundeswehr zuletzt Befehlshaber des operativen NATO-Kommandos in Brunssum/NL. Von 2014 bis 2018 war er Abteilungsleiter Planung im Bundesministerium der Verteidigung.