Hoch geschätzt und dringend benötigt: Deutsche Polizeifähigkeiten

24. April 2018   ·   Stefan Feller

Eine ressortübergreifende SSR-Strategie der Bundesregierung muss die Rolle und Fähigkeiten der VN-Polizei in Konfliktprävention, Friedenssicherung und nachhaltiger Friedensförderung anerkennen. Sie sollte spezialisierte Polizeifähigkeiten systematisch stärken. Denn gerade deutsche Beiträge werden dringend gebraucht.

Deutschland leistet kritische Beiträge zur Reform und Stärkung der Vereinten Nationen sowie zur Weiterentwicklung der Europäischen Union und zur Vertiefung der gemeinsamen europäischen Identität. Deutsche Institutionen der Inneren Sicherheit beteiligen sich seit vielen Jahren an globaler Konfliktprävention, Friedenssicherung und Friedensaufbau, einem Schwerpunktthema deutscher Außenpolitik. Die Leitlinien der Bundesregierung “Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern” vom 14. Juni 2017 bilden einen überzeugenden Rahmen für eine konzeptionelle Diskussion von ressortübergreifenden Aspekten der Sicherheitssektorreform und der öffentlichen Verwaltung (Governance), aber auch für einen von Prinzipien und Werten geleiteten Diskurs: Die Leitlinien beziehen sich auf den im deutschen Grundgesetz verankerten Willen, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Sie zitieren die Charta der Vereinten Nationen, die in ihrer Einleitung die Entschlossenheit der Weltgemeinschaft zum Ausdruck bringt, "künftige Geschlechter vor der Geißel des Krieges zu bewahren".  

Globalisierung, Grundwerte und Vereinte Nationen zunehmend in Frage gestellt  

Die 2016 und Anfang 2017 entwickelten Leitlinien analysieren zu Beginn diese Welt, die “aus den Fugen geraten” zu sein scheint. Was ist seit dieser Zeit noch deutlicher geworden?  

  • Eine Grundannahme der Leitlinien ist die andauernde Globalisierung. Diese Entwicklung wird zunehmend von nationalistischen Strömungen bekämpft. Der grassierende und teilweise vorsätzlich vorangetriebene Zerfall einer auf gemeinsamen Werten basierenden Diskussionskultur ist hier besonders besorgniserregend. Nicht selten ersetzen Zorn und blinde Emotion Vernunft und Respekt für Wahrheit und kollektive Werte.
  • Die Bedeutung der Vereinten Nationen als Plattform einer globalen Willensbildung zu Fragen von Frieden und Sicherheit wird zunehmend infrage gestellt: Wie zu Zeiten des Kalten Krieges sind gemeinsame Positionen im Sicherheitsrat schwieriger zu erreichen und von nationalstaatlichen Interessen überlagert. Dies erschwert politische und technische Maßnahmen zur Stützung von Konfliktprävention, Friedenssicherung und Friedensaufbau zunehmend: Mandate für VN oder andere Organisationen wie EU und AU können nicht formuliert werden oder sind unangemessen und schwach. Nicht selten nutzen Mitgliedsstaaten unterschiedliche Maßstäbe. Eine entschlossene Unterstützung für mit politischen Widerständen und Angriffen konfrontierten Friedensmissionen wird immer schwieriger.
  • Wertediskussionen werden zunehmend durch machtpolitisch dominierte nationalstaatliche Positionen infrage gestellt: Die derzeitige global sichtbare Tendenz, Menschenrechts- und humanitäre Fragen wieder nachrangig zu diskutieren, erlebt man derzeit sehr konkret im täglichen VN-Alltag. Derartige Signale werden von anderer interessierter Seite genutzt, um die Legitimität von Institutionen der internationalen Strafjustiz zunehmend infrage zu stellen. Gleichzeitig nehmen unverhohlene Angriffe auf Grundwerte eines entwickelten Demokratieverständnisses einschließlich des Grundrechts auf Presse- und Meinungsfreiheit global zu. Dies wird in Krisenländern zunehmend als Einladung verstanden, Schutz, Wohlergehen und Humanität der eigenen Bevölkerung oder von Minderheiten und verletzlichen Gruppen mit Füßen zu treten, ohne Sanktionen befürchten zu müssen.
  • Die Zukunft und die Rolle der Europäischen Union wird von innen und außen kritisch hinterfragt. 

Deutsche Außenpolitik: Aufgeben ist keine Alternative  

So findet sich deutsche Politik international im Mittelpunkt von Hoffnungen und Ängsten wieder: Die Hoffnung auf eine starke Rolle Deutschlands in Erhalt und Fortentwicklung der europäischen Idee und in Stützung der Gründungswerte der Vereinten Nationen ist in gleichgesinnten internationalen Kreisen größer als vielleicht im Inland vermutet. Im Umkehrschluss fragen sich viele Partner Deutschlands mit Sorge, ob die als standfest wertverbundene und multilateral empfundene starke deutsche Außenpolitik fortdauern wird.  

Die Konsequenzen für Art und Umfang von Unterstützungsmaßnahmen zur Stärkung und Reform des Sicherheitssektors und der öffentlichen Verwaltung in Krisen- und Konfliktgebieten müssen im Rahmen der politischen Willensbildung der Bundesregierung sorgfältig betrachtet werden: Nie war es wichtiger als heute, um den richtigen Weg für Friedensprävention, Friedensunterstützung und Friedensaufbau zu ringen.

Aufgeben ist keine Alternative. Kohärente und wirksame nationale Beiträge erfordern politischen Konsens auf internationaler Ebene. Am Ende gilt das Primat der Politik für jegliche technische Unterstützung der Stärkung und Reform von Institutionen im Bereich der Sicherheit und des Rechts.  

Keine Sicherheit ohne Grundwerte  

Die Interessenkollision zwischen politischem Pragmatismus und Grundwerten des Handelns war schon immer herausfordernd. Die Unterstützung von Krisen- und Konfliktstaaten beim Aufbau und der Reform des Sicherheitssektors und der öffentlichen Verwaltung muss ihre Grenzen dort finden, wo Grundwerte der internationalen Staatengemeinschaft in ihrem Wesensgehalt beeinträchtigt sind: Sicherheit ohne Freiheit darf es ebenso wenig geben wie Freiheit und Sicherheit ohne humane und soziale Werte. Partnerschaftliche Unterstützung im Rahmen von Konfliktprävention muss auf einem durch alle Partner von Beginn an akzeptierten Werteverständnis aufsetzen. Das Einhalten dieser Vereinbarungen muss Bedingung für die Fortsetzung von Unterstützung sein. Ebenso setzt Friedenssicherung voraus, dass hieran beteiligte uniformierte und zivile Kräfte die Werte der Entsendeorganisationen vorleben: Friedenssicherung ohne Wertorientierung und ohne entschlossenes Handeln gegen eigene Mitarbeiter, die Menschenrechte verletzen, de-legitimiert sich.  

In der VN-Polizeiabteilung haben wir zu dieser Werteorientierung in den letzten Jahren konzeptionell wesentliche Beiträge geleistet: Die Vereinten Nationen definieren “Polizeiarbeit” als eine Funktion öffentlicher Verwaltung, die Aufgaben im Bereich der Prävention, Feststellung und Ermittlung von Straftaten wahrnimmt, Personen und Eigentum schützt und öffentliche Sicherheit und Ordnung aufrechterhält. Aufgaben im Bereich der Polizei sollten Hoheitsträger wahrnehmen, die der Polizei oder anderen Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene angehören. Diese Behörden agieren in einem auf Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit aufbauenden gesetzlichen Rahmen. Hoheitsträger von Polizei und anderen Strafverfolgungs- und Sicherheitsbehörden sind zur Einhaltung und zum Schutz von Menschenrechten verpflichtet.  

Die Agenda des VN-Generalsekretärs ist eine Chance für die deutsche SSR-Strategie  

Durch die Entwicklung im Bereich der Friedensoperationen der VN in den letzten Jahren wird die Unterstützung des Wiederaufbaus und die Stärkung von Polizei und Rechtsstaatsinstitutionen nun stärker betont. Jüngste Beispiele sind der Wandel von MINUSTAH zu MINUJUSTH in Haiti und die andauernde Transformation von UNAMID in Darfur (Sudan). Gleichzeitig betont der VN-Generalsekretär die große Bedeutung von Konfliktprävention und nachhaltigem Friedensaufbau. Die Reformanstrengungen der VN verfolgen die Verwirklichung eines integrierten ganzheitlichen Ansatzes: Ressortschranken innerhalb der VN sollen abgebaut werden. Welch' eine Chance für eine deutsche Diskussion über eine ressortübergreifende Strategie!   

Polizeifunktionen sind Kernfunktionen in allen Gesellschaften  

Trotz enormer Fortschritte in den letzten Jahren haben weder die Gremien der VN noch die Mitgliedsstaaten die inhaltliche Diskussion zur Bedeutung von Polizei- und Justizfragen sowie zur Reform des Sicherheitssektors entschlossen genug geführt. In meiner Arbeit habe ich die folgenden Punkte noch im letzten Jahr aus Anlass meiner Amtsübergabe formuliert:  

Polizeifunktionen sind Kernfunktionen in allen Gesellschaften. Richtig verstanden und ausgeführt tragen sie zu Frieden, Sicherheit und Stabilität der Gesellschaft und der sie konstituierenden Gruppen bei. Auf dem Pfad von Friedenszerfall zu gewaltsamem Konflikt sind Institutionen der Sicherheit und des Rechts oft unter den ersten Tätern oder Opfern. Je widerstandsfähiger sie gegen politische Vereinnahmung sind, je standfester sie dem Schutz und der Sicherheit der Bevölkerung verpflichtet bleiben, umso größer ist die Chance, dass ein aufkommender Konflikt durch Dialog und Mediation bewältigt werden kann.  

Dort, wo Prävention versagt hat, gehört bürgerorientierte und wehrhafte Polizeiarbeit zu den ersten Opfern. Daher ist es eine kritische Voraussetzung für jeden Friedensprozess, den Wiederaufbau einer gut funktionierenden Polizei zu unterstützen. Polizeiarbeit muss sich durch nationale und örtliche Akzeptanz und Beteiligung aller relevanten Gesellschaftsgruppen legitimieren. Wehrhaftigkeit gegen Diskriminierung, Rechtsstaatlichkeit allen Handelns, Gleichberechtigung aller Geschlechter und Repräsentation der örtlichen Gemeinschaften müssen von der ersten Stunde der Unterstützung im Vordergrund stehen.  

Bereits Konfliktprävention muss Polizei stärken  

Polizeifunktionen sind wesentlicher Teil des Immunsystems von Gesellschaften. Daher muss Konfliktprävention bereits konzeptionelle Beiträge zur Stärkung des Immunsystems beinhalten. Falls Friedenssicherung notwendig wird, muss die internationale Unterstützung zum Wiederaufbau von Polizei als Teil eines Rettungseinsatzes verstanden werden, der “die Blutung des schwerverletzten Patienten stoppt”. Um im Bild zu bleiben, schützt diese Ersthilfe die bedrohten und verletzten Gruppierungen verwundeter Gesellschaften und beugt Infektionen durch transnationale Bedrohungen wie schwere und organisierte Kriminalität, gewaltbereiter Extremismus und internationaler Terrorismus vor. Hilfe im Wiederaufbau muss dies bereits in der ersten Stunde berücksichtigen und auch den Boden für die folgenden Bemühungen zur Sicherheitssektorreform bereiten. Wie in den Leitlinien der Bundesregierung betont, ist der Weg von Konflikt zu nachhaltigem Frieden ein langwieriges Unterfangen. Daher muss der Stabilisierung nach Konfliktende ein nachhaltiger und lang andauernder Beitrag zur Restauration des “Immunsystems” folgen: Friedensförderung muss Unterstützung für die Reintegration von Sicherheitsorganen in regionale und internationale Sicherheitsmechanismen beinhalten.  

Die Strategie der Bundesregierung muss VN-Polizei stärken  

Eine ressortübergreifende Strategie der Bundesregierung muss die Rolle und Fähigkeiten der VN-Polizei in Konfliktprävention, Friedenssicherung und nachhaltiger Friedensförderung stärken: Obwohl Prävention das edelste aller Ziele ist, diktiert die Realität zunehmender Konflikte die entschiedene Stärkung fähiger Polizeikräfte der VN, um die Zivilbevölkerung zu schützen und den Wiederaufbau lokaler Institutionen der Sicherheit und des Rechts zu unterstützen. Wo frühzeitige und entschlossene Integration spezialisierter Polizeiexpertise versagt, ist der Friedensprozess selbst in Gefahr: Heutige Friedensmissionen sehen sich asymmetrischen Bedrohungen durch nichtstaatliche Akteure ausgesetzt, die weder Bestandteil von Friedensprozessen sind, noch ein Interesse an erfolgreicher Friedensarbeit haben oder Friedensabkommen respektieren. Organisierte Kriminalität nutzt Konflikt und Krieg; Extremismus und internationaler Terrorismus nutzen organisierte Kriminalität als Mittel zur Finanzierung und Kontrolle.  

Spezialisierte deutsche Polizeiexpertise wird dringend benötigt  

Internationale Polizeiarbeit unter dem Dach der VN, der EU oder der Afrikanischen Union trägt zur Friedensbildung bei und ist daher eine praktische Form der Konfliktprophylaxe und der Rückfallvermeidung. Wer die Herstellung akzeptabler Bedingungen für Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit unterstützen möchte, hat keine Alternative: Die Leitlinien der Bundesregierung verdeutlichen die globalen Entwicklungen, die zu Flucht und Migration führen und von denen Extremismus, Gewalt und Kriminalität profitieren. Das Argument, dass Polizeiressourcen für den Einsatz “zu Hause” geplant und finanziert sind, und dass daher jeder Beitrag zu internationalen Friedensbemühungen der VN und auswärtigem Handeln der EU Ausnahme sein muss, geht fehl. 

Eine ressortübergreifende Strategie muss die systematische Stärkung spezialisierter Polizeifähigkeiten beinhalten. Deutschland genießt hier einen hervorragenden Ruf und deutsche Bemühungen, die Stärkung polizeilicher Fähigkeiten und Maßnahmen zur Reform des Sicherheitssektors miteinander zu integrieren, werden ausdrücklich wahrgenommen. SSR profitiert von breiter Akzeptanz erfolgreicher VN-Polizei-Unterstützung in Bevölkerung und Regierung. Spezialisierte deutsche Polizeiexpertise ist sowohl für VN-Polizei (von Prävention bis zum Friedensaufbau) als auch für SSR eine dringend benötigte Ressource.