Europäischer Geheimdienst: Lizenz zum Kooperieren

30. Juli 2019   ·   ​Pia Seyfried

Mit dem Austritt Großbritanniens verliert die EU einen wichtigen nachrichtendienstlichen Akteur. Es ist daher höchste Zeit für eine verstärkte Zusammenarbeit der EU-Nachrichtendienste nach dem PESCO-Modell. Der Vorsitz der EU-Ratspräsidentschaft 2020 bietet der Bundesregierung die einmalige Chance, innovative Ansätze auf die Tagesordnung zu setzen.

Die Europäische Union (EU) bekennt sich wiederholt dazu, im eigenen sicherheitspolitischen Interesse für Stabilität in ihrer europäischen Nachbarschaft einzutreten. Sie möchte Konflikte frühzeitig verhindern und lösen. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten müssen die hierfür im Rahmen ihrer Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) getroffenen Entscheidungen durch ein verlässliches Frühwarnsystem und Lagebeurteilungen absichern. Eine Mission ist ohne die Kenntnis des lokalen Kontextes zum Scheitern verurteilt. Hier spielen die Nachrichtendienste und nachrichtendienstliche Zusammenarbeit eine wichtige Rolle.

Spätestens seit dem 11. September 2001 misst die Politik der zwischenstaatlichen nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit eine wesentliche Bedeutung bei, v.a. bei der Bekämpfung des Terrorismus. Das manifestiert sich kontinuierlich in den außen- und sicherheitspolitischen Programmen der EU. Auch die seit 2016 von den Mitgliedstaaten getragene EU Globale Strategie unterstreicht die Notwendigkeit eines Informationsaustauschs für sicherheitspolitische Entscheidungen auf EU-Ebene: „Die europäische Sicherheit hängt von einer besseren und geteilten Bewertung der internen und externen Bedrohungen ab“, heißt es darin. „Dies erfordert Investitionen in Informationen [...] Wir müssen Informationen aus europäischen Datenbanken einspeisen und koordinieren." Der im selben Jahr veröffentlichte Aktionsplan zur Strategie bestätigt, dass ein „europäischer Knotenpunkt für strategische Informationen, Frühwarnung und umfassende Analyse“ ein notwendiges sicherheitspolitisches Instrument wäre.

Ein EU-Nachrichtendienst ist derzeit keine realistische Option

Mit dem Austritt Großbritanniens verliert die EU einen hochkompetenten und mächtigen nachrichtendienstlichen Akteur. Eine vertiefte Zusammenarbeit und sogar die Gründung eines supranationalen Nachrichtendienstes auf EU-Ebene scheinen daher notwendiger denn je. Aber so einfach ist es nicht: Nachrichtendienste sind der Kern nationalstaatlicher Souveränität. Die EU-Mitgliedstaaten stehen daher jeglicher Form einer institutionellen Form der Zusammenarbeit traditionell reserviert gegenüber und haben sich selbst klare rechtliche Grenzen dafür gesetzt.

Artikel 4 des Vertrags von Lissabon hält fest, dass die nationale Sicherheit in die "alleinige Verantwortung der einzelnen Mitgliedstaaten fällt". Die einschlägigen Regelungsbereiche „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ sowie die „Allgemeine[n] Bestimmungen über das auswärtige Handeln der Union und besondere[n] Bestimmungen über die Außen- und Sicherheitspolitik“ nehmen keinen Bezug auf die nachrichtendienstliche Kooperation, geschweige denn auf die Schaffung eines EU-Nachrichtendienstes. Artikel 73 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU ergänzt hingegen, dass es den Mitgliedstaaten freisteht, „untereinander und in eigener Verantwortung Formen der Zusammenarbeit und Koordinierung zwischen den zuständigen Dienststellen ihrer für den Schutz der nationalen Sicherheit verantwortlichen Verwaltungen einzurichten […].“ Ein EU-Nachrichtendienst ist nach geltender Rechtslage also keine Option, eine engere nachrichtendienstliche Zusammenarbeit ist jedoch rechtlich möglich sowie politisch und praktisch sinnvoll.

Zwei etablierte Formen der Zusammenarbeit gibt es bereits

Vor dem Hintergrund bestehender politischer Willensbekundungen und klarer europarechtlicher Grenzen sind zwei verschiedene Formen der nachrichtendienstlichen Zusammenarbeit auf EU-Ebene gewachsen: Zum einen bestehen eher informelle bilaterale und multilaterale Formen der Zusammenarbeit. Ein Beispiel dafür ist der Berner Club, ein Forum für die Inlandsnachrichtendienste aller EU-Mitgliedstaaten sowie Norwegen und die Schweiz. Dieser beruht auf einem freiwilligen Austausch von Informationen, Erfahrungen und Standpunkten. Angesichts des hohen Maßes an Vertrauen, Flexibilität und Unabhängigkeit werden diese informellen Kooperationsformen traditionell bevorzugt und gelten zudem am effektivsten.

Zum anderen bestehen institutionalisierte Formen der Zusammenarbeit innerhalb der EU-Strukturen. Dabei unterhält die EU eine militärische Nachrichtendiensteinheit mit der Intelligence-Direktion des EU-Militärstabes (EUMS INT), die Teil des Europäischen Auswärtigen Dienstes (EAD) ist. Diese bietet militärische Analysen/Bewertungen für die Entscheidungsfindung und Planung von zivilen sowie militärischen Missionen im Rahmen der GSVP. Daneben besteht das EU Intelligence Analysis Centre (INTCEN) als eine weitere Nachrichtendienststelle im EAD. Seine Aufgabe ist es, dem Hohen Vertreter für die Außen- und Sicherheitspolitik, verschiedenen Entscheidungsträgern der EU sowie den EU-Mitgliedstaaten politisch strategische Lagebilder als Entscheidungsgrundlage zur Verfügung zu stellen. Weder EUMS INT noch INTCEN generieren ihre eigene Intelligence. Sie sind vielmehr auf Informationen von nationalen Auslands- und Inlandsdiensten der Mitgliedstaaten sowie von internen EU-Einrichtungen angewiesen.

INTCEN und EUMS INT sind in der virtuellen Single Intelligence Analysis Capacity (SIAC) im EAD miteinander verknüpft. Hier werden Synergien geschaffen und je nach regionaler oder thematischer Zuständigkeit gemeinsame Analysen/Bewertungen erarbeitet. Damit bietet SIAC insbesondere den kleineren Mitgliedstaaten und der EU selbst einen erheblichen Mehrwert. Im Aktionsplan 2016 wurde SIAC als zentraler Knotenpunkt für die Erstellung strategischer Informationen und Bedrohungsanalysen definiert: „Um die Reaktionsfähigkeit der GSVP zu verbessern, ist eine verbesserte zivil-militärische Aufklärung erforderlich (… )durch SIAC als wichtigster europäischer Knotenpunkt für strategische Informationen, Frühwarnung und umfassende Analysen.“

Die wichtigsten Verbündeten der EU isolieren sich

Die Einrichtung eines supranationalen Nachrichtendienstes würde eine wesentliche Änderung der EU-Verträge mit sich bringen. Angesichts der Ergebnisse der Europawahlen und zunehmender Euroskepsis in einigen Mitgliedstaaten scheint das zumindest derzeit keine Option. Mit dem EAD und der integrierten SIAC wurde der EU jedoch bereits eine stärkere Rolle bei der Analyse interner und externer Sicherheitsbedrohungen zugestanden. Die Mitgliedstaaten könnten SIAC deutlich effizienter nutzen und optimieren, indem sie in mehr Personal sowie in die Quantität und die Qualität der gelieferten Erkenntnisse investieren. Damit würde ihr Mehrwert sichtbarer, das Vertrauen der Mitgliedstaaten weiter gestärkt und letztlich eine noch engere Zusammenarbeit ermöglicht.

In Zeiten wachsender Unsicherheiten befinden sich zwei der vertrauenswürdigsten nachrichtendienstlichen Verbündeten der EU in unvorhersehbarem politischem Fahrwasser: Sowohl die Vereinigten Staaten als auch das Vereinigte Königreich werden zwar mit hoher Wahrscheinlichkeit Partner in der Sicherheitspolitik bleiben. Auf lange Sicht könnte sich aber ihre jeweilige politische Isolation auch den vertraulichen Austausch nachrichtendienstlicher Informationen mit den EU-Mitgliedstaaten beeinträchtigen.

PECSO als Modell für nachrichtendienstliche Zusammenarbeit

Nicht erst seit gestern ist klar, dass die EU in außen- und sicherheitstechnischen Fragen zunehmend auf sich selbst gestellt ist. Dies hat bereits zu ehrgeizigen Reaktionen von 25 Mitgliedstaaten geführt, die sich zu einer „permanenten strukturierten Zusammenarbeit“ (PESCO) in der Verteidigungspolitik verpflichtet haben. PESCO könnte nun auch als Modell für eine stärkere nachrichtendienstliche Kooperation dienen. Eine engere Zusammenarbeit würde in Koalitionen einiger weniger Mitgliedstaaten stattfinden, die bereit und vor allem in der Lage sind, vertrauliche Informationen mit ausgewählten Partnern auszutauschen. Denkbar wären gemeinsame Projekte bei Themen wie nuklearer Sicherheit oder Terrorismusbekämpfung, aber auch eine bessere Prognose von Entwicklungen in Krisenregionen sowie für die Planung und Unterstützung von GSVP-Missionen. Weitere Projekte wären die gemeinsame Aus- und Weiterbildung von Personal, sowie die Forschung zur Harmonisierung und Weiterentwicklung von Informationssystemen und Datenbanken auf EU-Ebene.

Obwohl Artikel 42 des Lissabon-Vertrags keine Rechtsgrundlage für eine ständige strukturierte Zusammenarbeit der Nachrichtendienste bietet, könnten die allgemeinen Artikel 328/329 des Vertrags über die Arbeitsweise der EU eine Rechtsgrundlage für eine verstärkte Zusammenarbeit sein. Formales Ziel wäre ein nachrichtendienstliches Kooperationsabkommen, das eine neue Form der Verbindlichkeit schafft.

Einen Beirat, der sich mit strategischen Fragen zu Nachrichtendiensten befasst

Mit Blick auf die bevorstehende deutsche Ratspräsidentschaft im Jahr 2020 sollte sich die Bundesregierung darauf konzentrieren, solche flexiblen Kooperationslösungen zwischen den EU-Mitgliedstaaten zu erarbeiten, die zu einer tieferen Integration bereit sind. Die Ratspräsidentschaft ist eine einmalige Chance für Deutschland, innovative Prioritäten auf die Tagesordnung zu setzen, einschließlich die einer besseren nachrichtendienstlichen Kooperation für weitreichende gemeinsame sicherheitspolitische Entscheidungen.

In der deutschen Öffentlichkeit brauchen wir außerdem eine verstärkte, sachlich fundierte Auseinandersetzung mit nachrichtendienstlicher Aktivität. Es wäre wichtig, (theoretisches) Verständnis für die komplexen Fragen der nachrichtendienstlichen Tätigkeit zu generieren und damit Kritik zu ermöglichen, aber auch mehr Akzeptanz für diesen elementaren Bestandteil deutscher Sicherheitspolitik herzustellen. Denkbar wäre die Einrichtung eines Beirates aus etwa 10 Sicherheitsexperten, der sich mit strategischen Überlegungen zu Nachrichtendiensten befasst und die Bundesregierung diesbezüglich berät. Dieser sollte aus Vertreter*innen des Bundestages, der Nachrichtendienste von Bund und Ländern, aus Think Tanks und der Wissenschaft bestehen. So würde er auch einen transdisziplinären Mehrwert schaffen. Die Beteiligten würden strategisch-sicherheitspolitische Fragen unter nachrichtendienstlichen Gesichtspunkten bewerten, in halbjährlichen Sitzungen zusammentragen und den zuständigen Ressorts vorlegen. Aus diesen institutionalisierten Formaten könnten am Ende vielleicht sogar neue Impulse für einen derzeit (noch) fernen EU-Nachrichtendienst hervortreten.

Europäische Union Europa

​Pia Seyfried

Pia Seyfried ist Europawissenschaftlerin mit einem Schwerpunkt auf Sicherheitspolitik. Sie arbeitet im Deutschen Bundestag und als Dozentin an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin.