Rechtsstaatsförderung in Zeiten der Corona-Pandemie

09. Juni 2020   ·   ​Johannes Socher

Die Rechtsstaatsförderung sollte auf die Pandemie reagieren, indem sie etablierte Formate des Wissenstransfers nutzt und den Schutz vulnerabler Gruppen, die Stärkung von Gewaltenteilung sowie die Förderung in fragilen Staaten priorisiert. Im globalen Systemwettbewerb im Umgang mit der Pandemie muss die Wahrnehmung über die Vorzüge freiheitlich-demokratisch verstandener Rechtsstaatlichkeit proaktiv mitgestaltet werden.

Die Corona-Pandemie hat auch für die Rechtsstaatsförderung gravierende Auswirkungen und stellt ihre Akteure vor weitreichende Herausforderungen. Durchführungsorganisationen müssen laufende Projekte der Situation anpassen, etwa weil Expert:innen ihre Einsatzländer verlassen mussten und vorerst nicht mehr dorthin reisen können. Viele Projekte werden deshalb mittlerweile so gut es geht aus der Ferne virtuell implementiert. Auch die wissenschaftliche Begleitung von Projekten ist nur noch virtuell möglich und Kontextanalysen, Monitorings oder Evaluierungen vor Ort müssen auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Vor diesem Hintergrund muss sich die Bundesregierung fragen, wie Rechtsstaatsförderung weiter sinnvoll betrieben werden kann, welche kurz- und langfristigen Auswirkungen die Pandemie für diesen Bereich hat und wie jetzt am besten darauf reagiert werden sollte. 

Etablierte Formate des Wissenstransfers nutzen, um die Auswirkungen der Pandemie zu untersuchen

Zunächst können etablierte Handlungsformate des Wissenstransfers als Forum und Plattform des Austauschs genutzt werden, um die Auswirkungen der Pandemie auf die Rechtsstaatsförderung zu untersuchen. Zwar leidet auch der Wissenstransfer unter der Pandemie. So waren beispielsweise bestehende Kooperationen zwischen Forschungseinrichtungen und dem Auswärtigen Amt durch die Entsendung von Wissenschaftler:innen in das Ministerium zwischenzeitlich nur eingeschränkt möglich. Andererseits können institutionalisierte Formen des Wissenstransfers zwischen Ministerien, Durchführungsorganisationen und Forschungseinrichtungen trotzdem und gerade jetzt dazu genutzt werden, die Auswirkungen der Corona-Pandemie zu analysieren. Ein Beispiel hierfür im Bereich der Rechtsstaatsförderung sind die Fachgespräche, die der RSF-Hub in der Vergangenheit zu verschiedenen Themen ausgerichtet hat, um gemeinsam mit Expert:innen aus Politik, Praxis und Wissenschaft aktuelle Fragen zu diskutieren. In diesem Format werden momentan – über dezentrale Videochats statt wie üblich in persönlichen Treffen im Auswärtigen Amt – in einer neuen Reihe von Fachgesprächen die Auswirkungen der Pandemie auf die Rechtsstaatsförderung allgemein sowie auf die Rechtsstaatlichkeit in ausgewählten Ländern analysiert. Die Ergebnisse dieser Gespräche werden wie gewohnt im Nachgang zusammengefasst, in Form von Impulspapieren veröffentlicht und auf diese Weise in einen breiteren öffentlichen Diskurs eingespeist.  

Schutz vulnerabler Gruppen, Stärkung der Gewaltenteilung und Förderung in fragilen Staaten jetzt priorisieren

Auch wenn die Frage, wie sich die Pandemie auf die Rechtsstaatsförderung auswirken wird, noch nicht abschließend beantwortet ist und konkrete ad-hoc Anpassungen derzeit noch im Vordergrund stehen, sollte schon jetzt über Priorisierungen nachgedacht werden. Denn angesichts der weltweit zu beobachtenden Gefahren für die Rechtsstaatlichkeit lässt sich schon jetzt ableiten, welche Bereiche der Rechtsstaatsförderung kurz- und mittelfristig besonderer Aufmerksamkeit bedürfen.  

Erstens sollte jetzt der Schutz vulnerabler Gruppen stärker in den Vordergrund der Rechtsstaatsförderung treten. In vielen Ländern ist ein erhöhtes Gewaltaufkommen gegenüber marginalisierten Gruppen wie religiösen Minderheiten, indigenen Völkern, Flüchtlingen und Vertriebenen sowie gegenüber Frauen und Kindern zu beobachten. Hinzu kommt, dass Frauen eine Schlüsselrolle bei der Bewältigung der Pandemie innehaben – weltweit sind rund 70 Prozent aller Arbeitskräfte im Gesundheitswesen weiblich. Gleichzeitig sind alle in diesem Bereich tätigen Menschen den Gefahren einer Ansteckung mit dem Coronavirus besonders ausgesetzt; auch die Stärkung der Rechte der Arbeitskräfte im Gesundheitswesen ist deshalb jetzt zentral. Ähnliches gilt in Bezug auf die erhöhte Ansteckungsgefahr für Gefängnisinsass:innen und Migrant:innen in Lagern, wo aufgrund der Unterbringung auf engstem Raum die Einhaltung von Hygienemindeststandards erschwert ist oder sogar aussichtslos erscheint. Die Förderung von Aufklärungs- und Bildungsinitiativen, aber auch Dokumentationen von Rechtsverletzungen für spätere Entschädigung oder Strafverfolgung können diese Gruppen dabei unterstützen, ihnen zustehende Rechte und Rechtsschutzmöglichkeiten besser wahrzunehmen. Daneben sollten Maßnahmen im Bereich „Access to Justice“, also dem Ziel, allen gesellschaftlichen Gruppen einen gleichen, fairen und effektiven Zugang zu staatlichen und nichtstaatlichen Institutionen der Streitbeilegung zu gewähren, jetzt bevorzugt gefördert werden.  

Ein zweiter, damit zusammenhängender Schwerpunkt der Rechtsstaatsförderung sollte auf Maßnahmen zur Unterstützung der Justiz gelegt werden, insbesondere zur Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit der Gerichtsbarkeit und der richterlichen Unabhängigkeit. Angesichts der seit dem Ausbruch der Pandemie vielerorts zu beobachtenden Machtkonzentration auf die Exekutive sollte zur Stärkung der Gewaltenteilung daneben auch die Legislative besonders in den Blick genommen werden, zum Beispiel durch die rechtstechnische und inhaltliche Beratung von Parlamenten bei der Durchsetzung ihrer Rechte.  

Schließlich sollten angesichts der momentan in ihrem Ausmaß noch nicht absehbaren, aber mit Sicherheit immensen Gefahren der Pandemie für die Stabilität fragiler Staaten bestimmte Regionen in den Fokus der Rechtsstaatsförderung genommen werden. Erste Schätzungen sagen dramatische Infektions- und Todeszahlen in diesen Ländern voraus, wenn jetzt nicht schnell gehandelt wird. Für fragile Staaten sind diese Gefahren nicht nur eine extreme Herausforderung für die nationalen Gesundheitssysteme, sondern bilden einen zusätzlichen Stressfaktor, der für die Stabilität vieler dieser Länder zur Belastungsprobe werden könnte. Rechtsstaatsförderung kann mit präventiven und stabilisierenden Unterstützungsmaßnahmen zumindest einen kleinen Beitrag dazu leisten, das Vertrauen in Politik, Verwaltung und Justiz in diesen Ländern zu festigen. So kann Handlungsunfähigkeit vorgebeugt und Widerstandskraft entwickelt werden. Angesichts der auf diese Länder zukommenden Herausforderungen bei der Bewältigung der Pandemie wird das von zentraler Bedeutung sein.  

Wahrnehmung über die Vorzüge freiheitlich-demokratisch verstandener Rechtsstaatlichkeit proaktiv mitgestalten

Abgesehen von der Frage, wie sich die Corona-Pandemie auf die Arbeit der Akteure der Rechtsstaatsförderung unmittelbar auswirkt und welche Bereiche kurz- und mittelfristig priorisiert werden sollten, stellt sich die grundsätzlichere Frage, ob sich mittelbar nicht auch die globale Wahrnehmung der Förderung einer von Demokratie und der Achtung von Grund- und Menschenrechten geprägten Rechtsstaatlichkeit – möglicherweise dauerhaft – verändern könnte.  

In wissenschaftlichen Foren wie dem Verfassungsblog wird heftig darüber diskutiert, inwiefern die in Deutschland und in vielen anderen freiheitlichen Demokratien der Welt zur Bekämpfung der Pandemie ergriffenen Maßnahmen rechtsstaatlichen Grundsätzen genügen. Zentrale Grundrechte wie die Freizügigkeit, die Bewegungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit wurden bekanntermaßen auch hierzulande massiv eingeschränkt. Nicht nur in autoritären Staaten, auch in vielen freiheitlichen Demokratien wurde der Notstand ausgerufen, was in der Konsequenz zu einer Machtkonzentration auf die Exekutive, Einschränkungen in der Gewaltenteilung und teilweise zur Heranziehung des Militärs für inländische Aufgaben geführt hat. In einigen Ländern wurden außerdem Wahlen oder Verfassungsreferenden auf unbestimmte Zeit verschoben oder unter rechtsstaatlich fragwürdigen Umständen dennoch durchgeführt.  

Diese weitreichenden Eingriffe unterscheiden sich an der Oberfläche nicht wesentlich von den zur Bekämpfung der Pandemie getroffenen Maßnahmen in autoritär geführten Ländern. Schlimmer noch: Nicht nur chinesische Staatsmedien, auch westliche Qualitätszeitungen räsonieren nun über die Vorzüge autoritärer Herrschaft bei der Bewältigung der Pandemie. Unter Policy-Analyst:innen ist in der Folge eine Debatte darüber ausgebrochen, ob prinzipiell autoritär oder demokratisch geführte Länder besser dafür gewappnet sind, Pandemien und andere Krisen zu bewältigen, und wie sich dies langfristig geopolitisch auswirken könnte. In diesem Wettbewerb der Systeme werden dem autoritären China regelmäßig Südkorea und Taiwan als demokratische Positivbeispiele gegenübergestellt, die die Pandemie ebenfalls schnell und entschieden in den Griff bekommen haben zu scheinen (soweit man das heute schon beurteilen kann). Dies mag zum Teil mit den Erfahrungen dieser Länder im Umgang mit vergangenen Pandemien zusammenhängen. Der relative Erfolg könnte aber auch darin zu suchen sein, dass es sich bei Südkorea und Taiwan um Demokratien mit autoritären Rückständen handelt.

Diese beiden Phänomene zusammen genommen – vorgebrachte Zweifel aus der Wissenschaft an der Rechtmäßigkeit massiver Einschränkungen von Grundrechten und der Gewaltenteilung auch in freiheitlichen Demokratien einerseits, eine ins Wanken geratene globale Wahrnehmung der Krisenfestigkeit ebendieser freiheitlicher Demokratien andererseits – könnten langfristig gesehen mittelbar auch zu einem empirischen Legitimitätsproblem für die Rechtsstaatsförderung dieser Länder werden. Denn nur wenn sich freiheitliche Demokratien auch in Krisen selbst als starke Rechtsstaaten bewähren, können sie ein von Demokratie und der Achtung von Menschenrechten geprägtes Verständnis von Rechtsstaatlichkeit auch in Zukunft glaubhaft und erfolgreich in anderen Ländern fördern.  

Wenn also beispielsweise deutsche Verfassungs- und Verwaltungsgerichte unverhältnismäßige Maßnahmen zu weit gehender Beschränkungen der Exekutive korrigieren, ist dies nicht etwa zu kritisieren, sondern ein Zeichen dafür, dass der Rechtsstaat funktioniert. Das Gleiche gilt für den öffentlich geführten wissenschaftlichen Diskurs über die Rechtmäßigkeit der zur Bekämpfung der Pandemie ergriffenen Maßnahmen: Unabhängige wissenschaftliche Reflexion dieser politischen Entscheidungen ist ein wichtiges zusätzliches Korrektiv für die Regierungen freiheitlicher Demokratien, das die Rechtsstaatlichkeit dieser Staaten stärkt. Vor dem Hintergrund einer sich abzeichnenden Änderung der globalen Ordnung kommt es jetzt darauf an, die internationale Wahrnehmung dieser Vorzüge freiheitlich-demokratisch verstandener Rechtsstaatlichkeit zu bewahren und das Narrativ hierüber proaktiv mitzugestalten.

Rechtsstaatsförderung Research, Policy & Practice COVID-19

​Johannes Socher

Johannes Socher ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im RSF-Hub, einer Forschungs- und Beratungsstelle zur Rechtsstaatsförderung der Freien Universität Berlin in Kooperation mit dem Auswärtigen Amt. Der vorliegende Beitrag gibt die persönliche Meinung des Autors wieder und entspricht nicht notwendigerweise der Auffassung des Auswärtigen Amts.