Schon immer sinnvoll, wegen COVID-19 unumgänglich: Digitale Technologien für Friedensförderung

10. Juni 2020   ·   Patrick Rosenow

Die COVID-19-Pandemie bietet die Chance, digitale Technologien für Krisenprävention und Friedensförderung auszubauen. Deutschland sollte internationale Partnerschaften in der Friedensforschung fördern, die UN in den Bereichen Innovation und Technologie unterstützen und dieses Jahr im UN-Sicherheitsrat und während der EU-Ratspräsidentschaft das Thema voranbringen.

Mit dem Ausbruch von COVID-19 wurde klar: Die Pandemie wird bisherige Trends in nahezu allen Bereichen beschleunigen – auch den globalen Prozess der Digitalisierung. Am deutlichsten für die UN wurde dies, als UN-Generalsekretär António Guterres Mitte März, kurz nachdem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) COVID-19 als Pandemie einstufte, Home-Office für die meisten Bediensteten, unter anderem im UN-Hauptquartier in New York anordnete, um die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu schützen und die Arbeitsfähigkeit der Weltorganisation zu gewährleisten. Die Einschränkungen betrafen infolgedessen auch die Gremienarbeit der UN, insbesondere die Generalversammlung und den Sicherheitsrat. Arbeitsmethoden und komplexe digitale Abstimmungsfragen mussten die Mitgliedstaaten ebenso klären.

Während die zwischenstaatliche, politische Ebene in den UN also noch relativ wenige Erfahrungen mit Prozessen der Digitalisierung hat, ist die operative Ebene, das UN-Sekretariat, wesentlich weiter. Noch vor der COVID-19-Pandemie berief Guterres eine Hochrangige Gruppe für digitale Zusammenarbeit ein, die in ihrem Abschlussbericht im letzten Jahr zu dem Schluss kam, dass wirtschaftliche, soziale, kulturelle, politische und rechtliche Fragen der Nutzung und Entwicklung des Internets nur unter Einbeziehung aller Akteure zu lösen seien. Innerhalb des UN-Sekretariats gibt es verschiedene Abteilungen, die sich mit der digitalen Transformation befassen. Darunter fallen die Hauptabteilung Wirtschaftliche und Soziale Angelegenheiten (DESA), die zu digitaler Verbreitung und Fragen der digitalen Ungleichheit arbeitet und das Büro für Abrüstungsfragen (ODA), das sich mit Fragen der internationalen Sicherheit und Cybersicherheit befasst. Darüber hinaus arbeiten das Büro der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) zu Aspekten der Vorhersage humanitärer Katstrophen mit digitalen Technologien und, letztlich, die Hauptabteilung Politische Angelegenheiten und Friedenskonsolidierung (DPPA) zu digitalen Instrumenten, die Krisenpräventionsmöglichkeiten, Mediation und Friedenskonsolidierung unterstützen könnten. Zudem gibt es die bereits im Jahr 2009 gegründete Initiative der Vereinten Nationen, „UN Global Pulse“, die zu Technologien arbeitet, die riesige Datenmengen (Big Data) und künstliche Intelligenz in Bezug auf nachhaltige Entwicklung, humanitäre Hilfe und digitale Friedensmaßnahmen verarbeiten und auswerten.

Momentum der COVID-19-Pandemie für digitale Technologien nutzen

Wenn der COVID-19-Pandemie also etwas Positives abzugewinnen ist, dann, dass sie der Anlass für die verstärkte Nutzung digitaler Technologien im Bereich der Krisenprävention, Konfliktmediation und -analyse sowie der Friedenskonsolidierung sein könnte. Bislang werden Big Data, künstliche Intelligenz und Analysetools in erster Linie für den Bereich der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe verwendet – auch, um die Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) im Jahr 2030 zu erreichen. Mittlerweile jedoch werden durch die Internetnutzung, den Einsatz von privatwirtschaftlichen Satelliten sowie von mobilen Geräten so viele Daten generiert, dass auch die Krisenprävention und -bearbeitung davon systematisch Gebrauch machen kann und sollte. Bereits 2015 wurde dies im Bereich der Friedenssicherung als sinnvoll erachtet und auch Guterres hat das diesbezügliche Potenzial erkannt: Mit seiner Strategie für neue Technologien im Jahr 2018 versucht er, neue Technologien als Querschnittsthema innerhalb des UN-Systems voranzutreiben – so auch im Bereich Frieden und Sicherheit. Selbstverständlich muss der Einsatz dieser Technologien dem „do no harm“-Prinzip folgen. Aufgeschlüsselt setzt dies eine digitale Kompetenz der Nutzerinnen und Nutzer, digitale Sicherheit und Datenschutz sowie einen effizienten Ressourceneinsatz voraus.

Das DPPA hat zusammen mit UN Global Pulse and anderen externen Partnern bereits vor einiger Zeit zahlreiche digitale Programme zur Unterstützung von Mediations- und Friedensprozessen sowie Friedenskonsolidierungsmaßnahmen entwickelt und ihren Einsatz gefördert. Diese befinden sich in der ersten praktischen Erprobung und werden von der neuen DPPA Innovationseinheit „DPPA Innovation Cell“ sukzessive ausgebaut. Vor dem Hintergrund der Pandemie-Bekämpfungsmaßnahmen sind die Bewegungsfreiheiten der Bevölkerung in zahlreichen Staaten eingeschränkt. Digitale Kommunikations- und Beteiligungsmöglichkeiten werden deswegen immer wichtiger – auch in Staaten, in denen Krisen oder Konflikte herrschen. Der am 23. März gestartete Aufruf von Guterres nach einem globalen Waffenstillstand kann außerdem einen sinnvollen Rahmen bieten, in dem digitale Technologien Friedensprozesse unterstützen könnten. Dennoch kann und sollte ebenso langfristig auf digitale Technologien zurückgegriffen werden.

Technologien bieten Chancen für Früherkennung und digitale Teilhabe

Im Bereich der Krisenprävention geht es darum, Beobachtungen auf Grundlage empirischer Daten anzufertigen, um so den Ausbruch einer politischen Krise oder gar eines bewaffneten Konflikts rechtzeitig verhindern zu können. Geoinformationen von Satelliten werden bereits in der humanitären Hilfe eingesetzt und können vom DPPA zur Beobachtung von Flucht und Vertreibung, politischen Unruhen beziehungsweise sich anbahnenden Konflikten genutzt werden. Um ein Bewusstsein einer möglichen Konfliktlage vor Ort zu entwickeln eignen sich auch Big-Data-Analyseprogramme. Dies gilt gerade für Regionen mit begrenztem Zugang beziehungsweise geringer oder keiner UN-Präsenz. Im Zuge dessen eignen sich Instrumente zur Auswertung von Daten aus Sozialen Medien und der Einsatz künstlicher Intelligenz dazu, öffentliche Nachrichten auszuwerten, Muster zu erkennen und gegebenenfalls Änderungen in der Bevölkerungsstimmung frühzeitig zu erfassen, die auf eine neue Bedrohungsperzeption hinweisen. Ebenso nutzen beispielsweise Freundesgruppen von Staaten gerade in COVID-19-Zeiten regelmäßige Videotelefonkonferenzen (VTCs) mit Konfliktparteien und auf sie sollte auch danach ergänzend zu persönlichen Mediationsgesprächen zurückgegriffen werden. Außerdem können digitale Beteiligungsmöglichen in Post-Konfliktgesellschaften viele Teile der Bevölkerung einbinden, wie dies beispielsweise im Rahmen einer Vorbereitungskonferenz zum UN-Aktionsplan für Libyen im Jahr 2018 der Fall war.

Grenzen digitaler Technologien: Personal weiterbilden, Kriterienkataloge entwickeln

Selbstverständlich sind diese Techniken nur begrenzt möglich, wenn der Internetzugang eingeschränkt ist oder andere Beschränkungen in Konfliktgebieten vorliegen. Datenschutzrechtliche Fragen oder manipulierte Daten, Falschinformationen oder gar Desinformationen können ebenfalls auftreten. Darüber hinaus müssen derartige Datenmengen umfassend analysiert werden, da sie sich oft nicht von selbst erklären oder klare Muster zu erkennen geben. Staaten aber auch internationale Organisationen wie die UN müssen hier eine entsprechende Weiterbildung des Personals gewährleisten und neue, interdisziplinäre Ansätze nutzen. Zudem können Daten und digitale Technologien menschliche Akteure und ihre Erfahrungen in den Bereichen Krisenprävention, Mediation oder Friedenskonsolidierung nicht ersetzen. Aus diesem Grund müssen nationale Diplomatinnen und Diplomaten, aber auch etwa UN-Bedienstete immer einen klaren Kriterienkatalog nutzen, unter dem digitale Technologien für Frieden und Sicherheit eingesetzt werden sollten, um einen Missbrauch zu vermeiden.

Gerade im Bereich Frieden und Sicherheit zeigt sich, dass im Gegensatz zum humanitären Bereich die Daten sehr dezentral zu finden und relevante, politisch auswertbare Quellen oft erst einmal zu identifizieren sind. Auch wenn es bereits einige private Anbieter wie Predata gibt, die versuchen anhand von Daten geopolitische Risiken vorherzusagen, sollte es Ziel der UN sein, selbst eine offene Plattform für alle Mitgliedstaaten und die Zivilgesellschaft aufzubauen, um eine zentrale digitale Anlaufstelle für den Bereich der Krisenprävention anzubieten. Deutschland könnte einen derartigen Aufbau politisch unterstützen, mitfinanzieren und Personal sowie Trainingsmöglichkeiten zur Verfügung stellen. Dies würde sich lohnen: Als internationale Organisation sind die UN bereits im Besitz von nahezu unendlichen vielen Daten, die sie ohnehin für statistische Zwecke nutzen und auswerten.

In den von der Bundesregierung verabschiedeten Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ taucht die Digitalisierung lediglich im Zusammenhang mit der außenpolitischen Unterstützung von Verwaltungsmodernisierungen in Staaten auf. Das ist eindeutig zu wenig.

Netzwerkansatz und Zusammenarbeit stärken

Die Bundesregierung sollte wesentlich enger mit dem UN-Sekretariat, insbesondere mit dem DPPA, zusammenarbeiten, um die sinnvolle Nutzung digitaler Technologien im Bereich Frieden und Sicherheit auszubauen. Bislang verlaufen Kooperationen zwischen Deutschland und den UN zu diesem Thema eher unter dem Radar. Hier sollte sich die Bundesregierung ganz klar mit weiteren Mitgliedstaaten und mit mehreren wissenschaftlichen Einrichtungen für einen stärkeren, weltweiten Netzwerkansatz im Sinne des SDG 17 zu Partnerschaften einsetzen, um die Nutzung von innovativen Ansätzen für den Bereich Krisenprävention auszubauen. Der Aufbau einer politischen Plattform zur Förderung von Innovation and Technologie für den Bereich Frieden und Sicherheit zwischen dem UN-Sekretariat, der Wissenschaft und der Privatwirtschaft wäre eine lohnende Initiative, die die Bundesregierung vorantreiben könnte. Das Auswärtige Amt, zuständig für Krisenprävention, könnte hier eng mit dem Bildungs- und Wirtschaftsministerium zusammenarbeiten, um digitale Instrumente weiterzuentwickeln und strategisch den UN zur Verfügung zu stellen.

Austausch zwischen Diplomatie und Wissenschaft fördern

Von deutscher Seite wurden bereits erste Kooperationen und Austauschformate zwischen dem DPPA und dem Zentrum für internationale Friedenseinsätze (ZIF) durchgeführt, um Praktikerinnen und Praktiker mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Bezug auf digitale Technologien und ihre Nutzungsmöglichkeiten zusammenzubringen. Dies kann nur ein Anfang sein und sollte von der Bundesregierung häufiger und mit weiteren Institutionen durchgeführt werden. Der Bereich Innovation reicht dabei weit über das Thema digitale Technologien hinaus und bietet die Chance für eine breit gefächerte Debatte über neue Methoden und Herangehensweisen zur Konfliktbearbeitung. Als Wegbereiter für Innovation und Technologie könnte Deutschland seine diesbezüglichen Erfahrungen an andere Mitgliedstaaten weitergeben.

Sicherheitsratsmitgliedschaft und EU-Ratspräsidentschaft nutzen

Des Weiteren sollte die Bundesregierung das Thema digitale Technologien zur Krisenprävention, Mediation und Friedenskonsolidierung während der deutschen Sicherheitsratspräsidentschaft im Juli auf die Agenda setzen. Schließlich bewarb sich die Bundesregierung auch mit dem Begriff Innovation um einen nichtständigen Sitz im Sicherheitsrat. Über andere Organisationen wie die Europäische Union (EU) oder die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) könnten mit den UN mehr Synergien bei der Nutzung und Auswertung von Daten zur Krisenprävention geschaffen werden. Dafür sollte sich die Bundesregierung stark machen. Die EU-Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr bietet sich im Rahmen der Themensetzung hier ebenso an.

Digitaler Frieden: Deutschlands langfristiges Interesse

Klar ist: Obwohl die unmittelbare Bekämpfung von COVID-19 und dessen Folgen kurzfristig im politischen Fokus stehen wird, ist eine mithilfe digitaler Technologien angereicherte Krisenprävention im langfristigen Interesse Deutschlands, Europas und der Welt. Neue Technologien, mit denen die UN bereits extensiv experimentieren, können hierzu einen wichtigen Beitrag leisten. Die Bundesregierung sollte bei der Nutzung dieser Technologien zur Friedensförderung eine Vorreiterrolle übernehmen. Denn Frieden erreichen wir nur, wenn wir auch digitale Möglichkeiten mitdenken und sinnvoll einsetzen.