Von Freundesgruppen bis zu Koalitionen der Willigen: Den „neuen“ Multilateralismus aktiv mitgestalten

05. Oktober 2020   ·   Carlo Masala

Multilaterale Politik ist normativ und realpolitisch die DNA deutscher Außenpolitik. Doch Multilateralismus darf nicht zu einem inhaltsleeren Dogma verkommen. Deutschland sollte sich den neuen Formen des Multilateralismus wie Freundesgruppen, Kontaktgruppen und Koalitionen der Willigen stärker öffnen und im Weißbuch Multilateralismus deren Relevanz und Beständigkeit anerkennen.

„Multilateralism matters – auch und insbesondere für deutsche Außenpolitik im 21. Jahrhundert.“ Diese Aussage, die wohl jede Politiker:in in der Bundesrepublik Deutschland blind unterschreiben würde, ist jedoch mit dem Problem behaftet, dass sich der Charakter multilateraler Kooperation zwischen Staaten in den letzten Dekaden – insbesondere in der Sicherheitspolitik – substantiell verändert hat.  Ein Weißbuch Multilateralismus der Bundesregierung sollte diese neuen Formen nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern sie auch positiv würdigen und Deutschlands Platz und Rolle in ihnen bestimmen.

Multilateralismus ist die normative und realpolitische DNA deutscher Außenpolitik

Im Wesentlichen gibt es drei Gründe, warum es für die Bundesrepublik Deutschland keine wirkliche Alternative zum außenpolitischen Multilateralismus gibt:

  1. Im Grundgesetz wird Multilateralismus als Kern deutscher Außenpolitik quasi normativ vorgegeben. In der Präambel zum Grundgesetz verpflichtet sich die Bundesrepublik „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Unter den Bedingungen der Gleichberechtigung betreibt Deutschland  primär im multilateralen Rahmen Europas seine Außenpolitik. Gepaart mit Art. 26 (1) (Verbot eines Angriffskrieges und damit u.a. Verbot unilateralen militärischen Handelns Deutschlands) bleibt für deutsche Außenpolitik somit kaum ein anderer normativer Weg, als multilateral zu handeln.
  2. Die Notwendigkeit zum multilateralen Handeln ergibt sich aber auch durch Deutschlands geographische Lage. Mit seiner 3.714 km-langen Grenze zu acht verschiedenen Nachbarn ist Multilateralismus in Europa für Deutschland ein Zwang, der sich bereits aus seiner geopolitischen Mittellage ergibt.
  3. Zuletzt – und am wichtigsten – ist die Bundesrepublik Deutschland machtpolitisch zu schwach, um unilaterale Politik zu betreiben. Sie verfügt weder über die ökonomischen noch über die militärischen Machtmittel, um in Alleingängen ihre eigenen Interessen durchzusetzen. Würde die Bundesrepublik es dennoch versuchen, wäre Gegenmachtbildung die Folge, die deutsche Handlungsfreiheit in einem erheblichen Maße einschränken würde.   

Multilateralismus gehört damit sowohl normativ wie auch realpolitisch zur DNA deutscher Außenpolitik.    

Multilateralismus ist kein Selbstzweck: Es braucht mehr als den Status quo

Allerdings hat diese Einsicht zur Notwendigkeit des Multilateralismus in der Vergangenheit dazu geführt, dass die deutsche Außenpolitik multilaterales Handeln oftmals als reinen Selbstzweck betrachtet hat. Multilaterales Handeln zum Zweck des multilateralen Handelns ist aber keine Strategie, denn dies ignoriert die Tatsache, dass multilaterales Handeln nur ein Instrument ist, mit dem Staaten ihre strategischen Interessen durchsetzen wollen. Zum anderen hat die in der deutschen Außenpolitik oftmals vorzufindende reflexhafte Betonung des Multilateralismus dazu geführt, dass sie sich zu stark auf die existierenden multilateralen Organisationen fokussierte (UN, EU, NATO). Dabei übersah man in Berlin, dass sich über die letzten 20 Jahre klammheimlich neue Formen des Multilateralismus in und neben diesen Institutionen herausgebildet haben, die immer stärker die Geschicke der internationalen Politik bestimmen.

Der „neue“ Multilateralismus: Neue Partnerschaften für Reformen und gegen Blockaden

Diese „neuen“ Formen des Multilateralismus zeichnen sich dadurch aus, dass sie

a) sich konkret nur um die Bearbeitung einzelner Probleme kümmern (single-issue-orientiert);
b) informell organisiert sind (keine bürokratische Struktur, kein formales Vetorecht);
c) sich nach erfolgreicher oder gescheiterter Bearbeitung von Problemen wieder auflösen;
d) eine wechselnde Mitgliedschaft von interessierten und willigen Staaten wie auch nicht-staatlichen Akteuren haben.

Diese „neuen“ Formen des Multilateralismus entstehen sowohl innerhalb, wie auch außerhalb bestehender Institutionen, und sind oftmals der Versuch, Reformdruck auf diese auszuüben. Sie dienen aber auch als Alternative, um multilaterales Handeln in bestimmten Problembereichen (z.B. bei militärischer Intervention oder in der Non-Proliferationspolitik) zu ermöglichen, wenn die traditionellen Institutionen durch Blockaden handlungsunfähig sind.

Ob Freundesgruppen beim Generalsekretär der UN, militärische „coalitions of the willing and the able“ oder Kontaktgruppen zur Lösung regionaler Konflikte: Der „neue“ Multilateralismus bestimmt immer stärker die internationale Politik des 21. Jahrhunderts und versucht, die Blockaden zu umgehen, die sich oftmals in den traditionellen Institutionen ergeben. Auch Partnerschaften mit nicht-staatlichen Akteuren wie Unternehmen und Nichtregierungsorganisationen werden immer häufiger – auch in der Sicherheitspolitik, wie etwa der Kimberley Prozess zu Konfliktdiamanten zeigt.

Deutschland hat sich diesen neuen Formen nicht verweigert, ist oftmals aktiv in ihnen tätig und initiiert sie sogar. Aber auf der offiziell-rhetorischen Ebene verhält sich Berlin gleichzeitig zumeist so, als ob diesen neuen Formen des Multilateralismus ein unanständiger Ruf anhaftet.

Zwar werden im Weißbuch der Bundesregierung zur Sicherheitspolitik und zur Zukunft der Bundeswehr von 2016 ad-hoc Koalitionen erwähnt und in ihrer Bedeutung gewürdigt; und auch die Konzeption der Bundeswehr von 2018 geht darauf ein. Beide Dokumente tun dies jedoch noch in dem traditionellen Verständnis, dass solche Formen der multilateralen Zusammenarbeit eher die Ausnahmen sind und das primäre Ziel die Stärkung der traditionellen Institutionen multilateralen Handelns sei.

Eine solche Betrachtung verkennt jedoch die Tatsache, dass die diversen Formen des „neuen“ Multilateralismus sowohl auf der regionalen wie auch auf der globalen Ebene das bestimmende Kooperationsmuster zwischen Staaten für die absehbare Zukunft bleiben werden. Angesichts der zunehmenden Dysfunktionalität existierender multilateraler Organisationen, die auch auf absehbare Zukunft, auf Grund unterschiedlicher Interessen ihrer Mitglieder, nur noch eingeschränkt handlungsfähig sein werden, werden flexible und informelle Formen des multilateralen Handelns eine zunehmend attraktivere Alternative für Staaten sein.

Mehr deutsche Zuwendung für den „neuen“ Multilateralismus notwendig

Mithin wäre es notwendig, dass die Bundesrepublik Deutschland sich in ihrem Weißbuch Multilateralismus diesen neuen Formen des Multilateralismus in einer Neubestimmung der Bedeutung multilateralen Handelns positiv zuwendet und sie als das bezeichnet, was sie sind: Nämlich „neue“ Formen des Multilateralismus, die internationales Handeln zukünftig auch mitbestimmen werden.

Eine positive Hinwendung zu diesen „neuen“ Formen bedeutet nicht einen Abgesang auf die alten, tradierten Formen des Multilateralismus, sondern eröffnet der Bundesrepublik Deutschland eine zusätzliche Option für multilaterales Handeln. Es ist somit kein Entweder-oder, sondern ein Sowohl-als-auch. Und erweitert somit deutsche Handlungsoptionen im 21. Jahrhundert.

Die „neuen“ Formen des Multilateralismus zu ignorieren und sich weiterhin nur auf die klassischen multilateralen Foren zu konzentrieren und zu hoffen, dass die „neuen“ Multilateralismen ein nur vorübergehendes Phänomen sein werden, würde bedeuten, sich den Realitäten multilateralen Handelns im 21. Jahrhundert zu verweigern. Deshalb sollte sich die Bundesregierung in ihrem Weißbuch diesen neuen Formen des Multilateralismus, insbesondere in der Sicherheitspolitik, stärker öffnen und ihren Platz in diesen definieren. Dazu gehört es auch, sich zu „coalitions of the willing and the able“ als eine Form des multilateralen Handelns positiv zu bekennen, auch und vor allem, wenn sie im sicherheitspolitischen Bereich stattfinden.