Wer Multilateralismus will, muss auch sagen können, wo und wie

06. Oktober 2020   ·   Nicole Deitelhoff

Eine deutsche Multilateralismus-Strategie sollte in das multilaterale System investieren und starke internationale Organisationen fördern, die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Europäischen Union stärken und der Umsetzung bestehender internationaler Regeln Vorrang gegenüber der Entwicklung neuer Regelwerke einräumen.

Der Multilateralismus ist in der Krise. Die Zustimmung zu internationalen Institutionen, Normen und Verfahren scheint ebenso abzunehmen wie die Einhaltung der Vorgaben, die sie an staatliche Akteure stellen. Der Multilateralismus beziehungsweise das multilaterale internationale System mit seinen internationalen Institutionen und Normen ist dabei aber nicht nur von außen unter Druck geraten, sondern genauso von innen. Es sind nicht nur „rogue states“, nicht nur China, Russland oder Iran und Nordkorea, die das System unter Druck setzen. Auch aus dem Inneren, von Staaten wie den USA, fehlt Unterstützung, werden Institutionen wie die Streitschlichtungspanels der WTO blockiert oder Institutionen wie die WHO oder aber die EU verlassen.  

Deutschland will nun ein Weißbuch für Multilateralismus entwickeln, um eine strategische Reflektion über eine der zentralen Leitlinien deutscher Außenpolitik einzuleiten. Diese ist dringend von Nöten, denn weder kann die deutsche Außenpolitik im Alleingang das multilaterale System retten noch ist hinreichend geklärt, was davon eigentlich rettungswürdig oder -bedürftig ist und wie eine Rettung aussehen könnte.  

Angesichts sich zuspitzender Großmachtrivalitäten zwischen China, Russland und den USA und der Abnahme von Regeleinhaltung gegenüber internationalen Institutionen muss es primär darum gehen zu entscheiden, wo Multilateralismus für Deutschland wichtig ist, und ihn dort zielgerichtet zu stärken. Das verweist auf zwei Aspekte: Zum einen geht es um die Identifikation konkreter Probleme, die sich nur multilateral bearbeiten lassen. Zum anderen geht es um die grundsätzliche Stärkung internationaler Organisationen, auch wenn das bedeutet, dass man dabei mit Partnern konfrontiert ist, die in zentralen Bereichen abweichende Positionen vertreten.  

Multilateralismus soll Probleme lösen und Vertrauen schaffen  

Multilateralismus ist kein Selbstzweck, sondern erfüllt konkrete Funktionen in der internationalen Politik: Er soll einerseits Problemlösungen in Konfliktfeldern verbessern, wenn nicht gar ermöglichen. Andererseits sollen über die Etablierung multilateraler Regeln und Institutionen die internationalen Beziehungen generell zivilisiert werden, weil die positiven Erfahrungen aus der konkreten Zusammenarbeit Vertrauen schaffen, das sich in anderen Handlungsfeldern niederschlägt. Die Problematik eines zerfallenden multilateralen Systems lässt sich mithin nicht auf eine erschwerte Zielerreichung und Problemlösung für gegenwärtige Herausforderungen der internationalen Politik, von Terrorismusbekämpfung über Klimawandel bis hin zu Gesundheitsfürsorge, begrenzen. Auch das internationale System als Ganzes wird unsicherer, weil das Verhalten von Staaten weniger berechenbar ist in einem System, das nicht von gemeinsamen Regeln, sondern von Ad-hoc-Entscheidungen und wechselnden Allianzen geprägt ist. Für Deutschland ist das ein ungünstiges Szenario, denn als Mittelmacht profitiert es von einem regelbasierten System.  

Um dieses Szenario zu vermeiden, wird ein multilaterales System variierender Reichweite und mit variierenden Verpflichtungen benötigt, das die Ressourcen Deutschlands nicht überfordert. Dazu braucht es eine im Folgenden schlaglichtartig ausgeleuchtete Strategie: Eine solche Strategie sollte erstens in das multilaterale System als System investieren, um Unterstützung zu mobilisieren und das Rückgrat jedes Multilateralismus – starke internationale Organisationen – zu fördern. Sie muss zweitens spezifische Regelwerke identifizieren, die von hohem Nutzen für die deutsche Außenpolitik sind und ihre Kernthemen betreffen. Und drittens sollte sie der Umsetzung Vorrang vor der Innovation einräumen. Denn die gegenwärtige Herausforderung besteht nicht darin, neue Regelwerke zu entwickeln, sondern die bestehenden mit Partnern krisenfest zu machen.  

Wer Multilateralismus will, braucht ein starkes multilaterales System.

Viele Verteidigerinnen und Verteidiger des Multilateralismus hoffen zumindest insgeheim auf einen Wahlsieg des demokratischen Herausforderers Biden bei den anstehenden Präsidentschaftswahlen in den USA. Diese Hoffnung ist jedoch trügerisch: Die Zurückhaltung der USA gegenüber multilateralen Institutionen setzte nicht erst mit Trump ein und sie wird ihn sicher überdauern. Daher sollte Deutschland nicht auf US-Führung zur Rettung des Multilateralismus setzen. So wichtig die transatlantische Partnerschaft für Deutschland ist und bleibt, Bidens Plan für Restoring American Leadership ist kein deutscher oder europäischer Plan. Die Idee seines Wahlkampfteams für einen Summit for Democracy deutet an, dass hier ein selektiver Multilateralismus eingeübt werden soll, der nach den Erfahrungen mit „liberaler“ Weltordnungspolitik in den 2000er Jahren global diskreditiert ist. Das internationale System wird in absehbarer Zukunft kein demokratisches sein. Deswegen braucht es einen Multilateralismus für alle: Mit der Allianz für Multilateralismus hat Deutschland vorgemacht, wie das gehen könnte. Darauf aufbauend könnte die Bundesregierung im Kontext der EU-Ratspräsidentschaft einen Global Summit for Multilateralism organisieren.

Ein multilaterales System für alle heißt, auch universelle Organisationen zu stärken, die dessen Rückgrat ausmachen. Ein multilaterales System funktioniert nicht ohne handlungsfähige internationale Organisationen. Dazu zählen zuvorderst die Vereinten Nationen, die nicht nur, aber vor allem mit Blick auf ihre Kernaufgabe, Frieden und Sicherheit zu schützen, Stärkung benötigen. Deutschland kann dazu u.a. beitragen, indem es den multilateralen Anteil seiner freiwilligen Beiträge signifikant anhebt und damit für den Kernhaushalt der VN verfügbar macht. Während UN-Generalsekretär Guterres mindestens 30 Prozent empfiehlt, liegt der deutsche Anteil derzeit bei neun Prozent. Zusätzlich sollte die Bundesregierung die Partnerschaften zwischen den Vereinten Nationen und Regionalorganisationen stärken, insbesondere mit der Afrikanischen Union. Das ist sowohl mit Blick auf die Finanzierung von Missionen als auch mit Blick auf den gezielten Ausbau der zivilen Krisenprävention zentral, denn auf dem Afrikanischen Kontinent finden sich nach wie vor mehr als 50% der laufenden Gewaltkonflikte und mehr als 50% der VN-Missionen.    

Zentrale Regelwerke und Institutionen identifizieren: Deutschlands Zukunft liegt in Europa.

Ein weiteres Kernelement einer deutschen Multilateralismus-Strategie muss die Identifikation zentraler Regelwerke und Institutionen für die eigene Interessensverfolgung sein. Aus deutscher Sicht sind das vor allem die europäischen Institutionen: Unter Frieden und Sicherheit im engeren Sinne zählen dazu die Weiterentwicklung der Sicherheits- und Verteidigungsunion der Europäischen Union in enger Abstimmung mit der NATO, um unabhängiger von den Großmächten zu werden, ebenso wie die Wiederbelebung der Europäischen Sicherheitsarchitektur auf dem Kontinent. Das wird nicht gehen ohne Gespräche mit Russland, in denen die Unverletzlichkeit der Grenzen als Anspruch aufrecht erhalten, aber dennoch Offenheit für eine Neuaushandlung der gemeinsamen Beziehungen in der Zukunft signalisiert werden müssten. Das kann auch Entflechtung mit einschließen. Ziel muss letztlich sein, die NATO-Russland-Grundakte zu erneuern. Das wird nur in vielen kleinen Schritten zu erreichen sein, aber angesichts der desolaten Lage in vielen Bereichen, von der Rüstungskontrolle bis hin zu Syrien, ist jeder Schritt bedeutsam.  

Über dieses enge Verständnis von Frieden und Sicherheit hinaus, geht es mit Blick auf eine Stärkung der Europäischen Union darum, Chinas Versuche der Einflussnahme innerhalb der Union zu begrenzen (Stichwort EU 17+1) und die gemeinsamen Regeln und Normen zu stärken. Eine Möglichkeit hierzu bieten die Corona-Pakete bzw. das Investitionspaket, das aber mit Konditionalisierung im Hinblick auf eine klimaschutzorientierte Wirtschaftspolitik sowie die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeitsstandards ausgeschüttet werden muss, soll es eine steuernde Wirkung gegenüber den Mitgliedsländern erreichen. Hinzu treten muss ein strategischer Diskurs innerhalb der EU dazu, wo die Mitgliedsländer ihre Grenzen gegenüber China (und Russland s.o.!) ziehen wollen und welche strategischen Ressourcen sie daher aufbauen oder verteidigen müssen, damit sie dies auch tun können. Auch ein Anstoß für einen solchen strategischen Dialog gehört notwendigerweise in eine Multilateralismus-Strategie der Bundesregierung.    

Die Umsetzung bestehender Regelwerke sollte Vorrang haben. 

So sehr viele der gegenwärtigen Herausforderungen nach neuen Regelwerken rufen, zentraler ist die Umsetzung der bestehenden Regelwerke. Ein wesentliches Symptom der gegenwärtigen Krise ist nicht der Mangel an multilateralen Regeln, sondern dass sich immer weniger Staaten daran gebunden fühlen. Das gilt insbesondere im humanitären Völkerrecht. Um diesem Problem zu begegnen, müssen Völkerrechtsverletzungen als solche öffentlich und offen benannt werden. Normative Verpflichtungen erneuern sich nicht nur, aber ganz wesentlich durch Rechtfertigungen in öffentlichen Diskursen. Wenn Normverletzungen nicht mehr als solche skandalisiert werden, geraten die entsprechenden Verpflichtungen in Vergessenheit und zerfallen. Die Forschung zu Normkonflikten zeigt deutlich auf, dass die Bestreitung von Normen nicht automatisch Normen schwächt, sondern sie sogar stärken kann, weil sie Akteure dazu bringt, sich wieder mit Normen auseinanderzusetzen. Gefährlich wird es erst dann, wenn auf Bestreitung oder Normbrüche nicht mehr reagiert wird.Um skandalisieren zu können, braucht es belastbare Informationen zu Normverletzungen. Darum müssen die vielfältigen Angriffe auf das fact-finding im humanitären Völkerrecht abgewehrt und die Attribution gestärkt werden. Dafür müssen die Bundesregierung und gleichgesinnte Staaten die Partnerschaft mit zivilgesellschaftlichen Organisationen suchen und weiter gezielt stärken. Sie sind zentrale Partner im Monitoring und auch in der Implementation vieler Regelwerke vor Ort unverzichtbar.  

Multilateralismus ist nicht nur kein Selbstzweck, es ist auch kein Selbstläufer. Er ist immer auf Unterstützung angewiesen, durch diejenigen, an die sich die Regeln wenden und durch Organisationen, welche die Etablierung von Regeln, ihre Einhaltung und Fortentwicklung begleiten. Eine Gesamtstrategie muss daher beides leisten: Einerseits das Gesamtsystem stützen und anderseits die knappen Ressourcen dort einsetzen, wo sie den größten Nutzen bringen.

Vereinte Nationen Finanzierung Multilateralismus

Nicole Deitelhoff

Prof. Dr. Nicole Deitelhoff ist Leiterin der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) und Professorin für Internationale Beziehungen und Theorien globaler Ordnungen an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main.