Arbeitstitel: „Lernen für den Frieden“

10. Mai 2021   ·   Jörn Grävingholt

Um neben zahlreichen Bildungsangeboten zu Krisenprävention und Friedensförderung auch vielfältige Erfahrungen aus der Praxis zusammenzuführen, sehen die Leitlinien eine „Lernplattform“ vor. Sie sollte verschiedene Akteure der Friedensförderung in unterschiedlichen Formaten zusammenbringen und Wissen kontinuierlich und problemorientiert sammeln. Dafür bleibt noch viel zu tun.

Nachdem sich die Bundesregierung 2017 in den Leitlinien „Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern“ verpflichtet hatte, „eine Lernplattform zur Bündelung und Verwertung von Erfahrungen aus ihrem Engagement auf[zu]bauen“ (Selbstverpflichtung 47), ging es 2018 zügig mit der Umsetzung los. Die neue Plattform, noch etwas ungelenk mit dem Arbeitstitel „Lernen für den Frieden“ versehen, organisierte erste Workshops für zivile Fachkräfte und Soldat*innen, die sich in der Einsatzvorbereitung, auf einem Zwischenaufenthalt oder nach dem Einsatz wieder zurück in Deutschland befanden. 

Einige Workshops waren großen Einsätzen wie Afghanistan oder Mali gewidmet; staatliche und nichtstaatliche, zivile und militärische Akteur*innen tauschten sich aus über ihre Arbeit vor Ort, die Schnittstellen ihrer Tätigkeiten, die Ziele und Grenzen ihrer Mandate. In anderen Workshops standen weniger prominente Engagements ohne militärischen Einsatz der Bundeswehr im Vordergrund: Länder wie Kolumbien und Äthiopien, Nepal und Niger, die Nachbarländer Syriens, in denen zahlreiche deutsche Fachkräfte des Zivilen Friedensdienstes, Spezialist*innen der konfliktbearbeitenden Entwicklungszusammenarbeit und Übergangshilfe sowie Expert*innen der kirchlichen Werke vor Ort tätig sind. Zentrale Bedingung war, dass von Anfang an auch offen über Erfahrungen mit Fehlern und Misserfolgen gesprochen werden konnte.

Kamingespräche brachten auch Leitungspersonal der Ministerien AA, BMZ, BMVg und BMI mit Vertreter*innen großer zivilgesellschaftlicher Organisationen und Friedens- und Konfliktforscher*innen zusammen. In diesen Runden standen die strategischen Fragen im Vordergrund: Welche Zielsetzungen haben sich bewährt? Sind die Grundsätze der Zusammenarbeit (und Abgrenzung!) noch geeignet? Passen Ziele und Ressourcen zusammen?

Rückkehrstipendien und interaktives Wissensmanagement

Ab 2019 trat ein neues Instrument hinzu: Dreimonatige „Stipendien für Rückkehrer*innen“ schaffen seitdem den Freiraum, Erfahrungen aus humanitärer Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit, internationalen Militärmissionen und zivil-militärischer Kooperation systematisch und im gezielten Austausch mit Fachexpert*innen auszuwerten. Dabei entstehen nicht nur schriftliche Berichte. Die ersten Stipendiat*innen entwickelten außerdem neue Workshop-Formate, ebenso wie neue praxisorientierte Handreichungen für verschiedene Handlungsfelder der Friedensförderung – „lebende“ Dokumente, die keine amtlichen Standpunkte festschreiben, sondern ohne offiziellen Gültigkeitsanspruch Erfahrungswissen aufzeichnen, auch Widersprüchliches nebeneinander stehen lassen können und fortlaufend mit neuen Erfahrungen fortgeschrieben und überschrieben werden. Eine interaktive Datenbank macht dieses Wissen auch anderen zugänglich. So entstand der Kern eines Wissenspools, der in Zukunft allen Expert*innen zur Verfügung stehen soll.

2020, während der Corona-Pandemie, kamen verstärkt virtuelle Begegnungsformate zum Zuge. Die Pandemie beschleunigte, was schon zuvor für nötig gehalten worden war: Erstens, Begegnung auch dann zu organisieren, wenn die Anwesenheit am selben Ort nicht möglich ist. Und zweitens, lokales Wissen, die Kenntnisse und Erfahrungen einheimischer Expert*innen selbstverständlich einzubeziehen und gemeinsames Lernen zu befördern.

Organisiert wird „Lernen für den Frieden“ von einem kleinen Team an Friedensfachleuten aus staatlichen und nichtstaatlichen Organisationen, die zunächst für drei Jahre von ihren Heimatinstitutionen freigestellt worden sind. Die Grundfinanzierung steuerte der Bund bei. So entstand eine lebendige Lernplattform, die den problemorientierten Austausch fördert, dabei institutionelle Grenzen überschreitet und das reiche Wissen, das Männer und Frauen aus Deutschland und seinen Partnerländern seit vielen Jahren in der Friedensförderung und Konfliktbearbeitung erwerben, neu in Wert setzt. 

Nun fragen Sie sich, wie es sein kann, dass Sie von all dem bis heute nichts mitbekommen haben? Nun, die Wahrheit ist: Diese Geschichte ist erfunden. Nur Selbstverpflichtung 47 steht tatsächlich so wie oben zitiert in den Leitlinien. Doch die Lernplattform gibt es nicht. Die „Bündelung und Verwertung von Erfahrungen“ aus dem vielfältigen Engagement, in das sich Deutschland als Staat und Deutsche im Auftrag staatlicher und nichtstaatlicher Organisationen zur Beilegung von Krisen und zur Förderung des Friedens einbringen, hat bislang noch keinen Ort. Wenn im Herbst eine neue Bundesregierung gebildet wird, sollte sie das ändern.

Ein breiter Erfahrungsraum hilft, wenn einfache Lösungen fehlen

Führungskräfte in allen Organisationen, die in der Friedensförderung und Krisenbewältigung tätig sind, wissen, dass ihre mit Abstand wichtigste „Ressource“ die Menschen sind, die sich ihren Zielen verschrieben haben. Leitlinien, Strategiepapiere, Leitfäden und erst recht Mandatstexte und Entsendegesetze können einen Rahmen vorgeben. Doch wie Mediation zwischen verfeindeten Parteien nach durchverhandelten Nächten erfolgreich sein kann; wo bei den Regierungsverhandlungen über EZ-Mittel die geeignete Linie zwischen dem Pochen auf universalen Normen und der Achtung lokaler „Ownership“ zu ziehen ist; ob das vertrauliche Gespräch zwischen der vor Ort allseits geachteten NGO-Repräsentantin und dem Kommandeur der nicht überall beliebten internationalen Militärpräsenz eher Blockaden lösen oder eher Vertrauten zerstören wird – für diese und viele andere Fragen gibt es keine fertigen Antworten. Doch sie können umso besser beantwortet werden, je breiter, je umfassender der Erfahrungsraum ist, vor dessen Hintergrund die Menschen, die mit ihnen konfrontiert sind, ihre Situation reflektieren und Entscheidungen treffen.

Aber aus etlichen Gründen verfügt ein großer Teil der Fachkräfte vor Ort nur über sehr begrenzte eigene Erfahrungen. Dazu zählen etwa die üblichen Personalrotationen in den Ministerialapparaten, belastungsbedingt kurze Stehzeiten beim Militär (und in Hochrisikogebieten wie Afghanistan auch beim zivilen Personal) sowie die schwierige Verbindung von Kriseneinsätzen mit der „Familienphase“ potenzieller Expert*innen. Die Qualität der theoretischen – akademischen oder anderweitigen – Ausbildung, die Friedensfachkräfte wie auch Soldat*innen vor ihrem ersten Kriseneinsatz erfahren haben, dürfte in den vergangenen zwei Jahrzehnten erheblich zugenommen haben. Dennoch bleibt erhebliches Erfahrungswissen ungenutzt.

Bestehende Bildungsformate bündeln zu wenig die Breite der Erfahrungshintergründe

Natürlich verfügen praktisch alle Organisationen, die in der Krisenbewältigung und Friedensförderung tätig sind, über Aus- und Weiterbildungsformate. Doch gleich ob es sich um Trainings des Zentrums für internationale Friedenseinsätze oder der Akademie für Konflikttransformation des forumZFD, um Seminare der Akademie Auswärtiger Dienst oder der Bundesakademie für Sicherheitspolitik, um Einsatzvorbereitung in der Akademie für internationale Zusammenarbeit der GIZ oder Lehrgänge an der Führungsakademie der Bundeswehr handelt – fast immer geht es jeweils um eine sehr spezifische Zielgruppe, werden eher Curricula absolviert als Erfahrungen ausgetauscht oder ist der Zeitaufwand (wie im Lehrgang der BAKS) so groß, dass das Format Jahr für Jahr nur sehr wenige erreicht.

Nichts davon ist falsch oder überflüssig. Aber was nach wie vor fehlt, ist ein Ort, der dem Anspruch gerecht wird, die Breite der Erfahrungshintergründe zu bündeln, und Erfahrungen alleine dadurch verwertet, dass sie in einem eigens dafür geschaffenen Raum geteilt werden können. 

Die neuen „Hubs“, die im Zuge der Arbeit an den ressortgemeinsamen Strategien zur Vergangenheitsarbeit, Sicherheitssektorreform und Rechtsstaatsförderung entstanden sind, haben begonnen, themenspezifisches Erfahrungswissen aufzunehmen. Notwendigerweise bleiben sie jedoch auf ihre Themenbereiche fokussiert. Auch die neue Stabilisierungsplattform verspricht bisher keinen anderen Ansatz. Durchaus überlegenswert wäre, diese neuen Formate in eine neue, umfassende Lernplattform wie die oben skizzierte einzubringen. Doch der vorrangige Schritt wäre nicht, das Bestehende in einer neuen Struktur zu integrieren, sondern Neues anzubieten und die Lücke zu schließen, der sich die Bundesregierung schon bei der Formulierung der Leitlinien 2017 bewusst war.

Administrative Einschränkungen überwinden: mehr Emotion und Innovation

Aus der Pädagogik ist bekannt: Lernen gelingt umso wirksamer, je stärker nicht nur unsere kognitiven Fähigkeiten, sondern auch unsere Emotionen angesprochen sind. Begegnungen mit Menschen, die von ihren realen Erfahrungen berichten, von ihren Erfolgserlebnissen und ihren Ängsten, setzen solche Emotionen frei. Und aus der Innovationsforschung wissen wir: Kreativität entfaltet sich und neue Ideen entstehen am besten dort, wo wir mit Ungewohntem konfrontiert werden, wo Begegnungen außerhalb der gewohnten Bahnen stattfinden. Einen Ort zu schaffen, der nicht administrativen Zwängen unterliegt, sondern dem Austausch und der Lernerfahrung über die üblichen Kommunikationsblasen hinweg einen Raum gibt, wäre ein erheblicher Gewinn für das Engagement Deutschlands zur Bewältigung von Konflikten und zur Förderung des Friedens in der Welt.

Friedensförderung Research, Policy & Practice Krisenprävention

Jörn Grävingholt

Dr. Jörn Grävingholt ist Politikwissenschaftler am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE) und Mitglied des Beirats Zivile Krisenprävention und Friedensförderung. @JGraevingholt