Sicherheitspolitische Verengung verspielt das Potenzial des SSR-Konzepts

07. Juni 2018   ·   Sabine Mannitz

Eine strategische Neuausrichtung von SSR darf nicht zu Lasten des Ziels gehen, Sicherheits- und Entwicklungspolitik zu Gunsten menschlicher Sicherheit zu koordinieren. Hierfür müsste die Bundesregierung Projektlaufzeiten deutlich verlängern, lokale Kontexte der Partnerländer ernster nehmen und auf einseitige Prioritäten zu Gunsten der materiellen „Ertüchtigung“ staatlicher Sicherheitsorgane verzichten.

Die Überlegung, dass nachhaltige Entwicklung und Armutsbekämpfung ohne Frieden und Sicherheit ebenso wenig zu haben seien wie umgekehrt, hat unter dem Label der Sicherheitssektorreform (SSR) in ganz unterschiedlichen Ländern Reformaktivitäten veranlasst. Diese wurden und werden unter Zutun von internationalen Organisationen, einzelnen Ländern oder auch privaten Akteuren wie Stiftungen und Consultingfirmen umgesetzt. Sowohl das enorme Spektrum als auch die Bilanzen dessen, was in Partnerländern in punkto sicherheitsbezogener Governance unternommen wurde, sind so gemischt, dass eine kritische Revision angebracht ist. Bei der Bilanzierung und strategischen Neuformulierung von SSR lohnt es sich allerdings, die Begründung des Transformationskonzepts in Erinnerung zu rufen, um seinen hohen Anspruch nicht voreilig ad acta zu legen.

Anspruch und Umsetzung des SSR-Konzeptes klaffen auseinander

Als an der Schnittstelle von Entwicklungs- und Sicherheitspolitik in den 1990er Jahren die SSR-Agenda entwickelt wurde, stand die Überlegung im Vordergrund, dass staatliche Sicherheit nicht (länger) zu Lasten menschlicher optimiert werden dürfe. Die Zusammenhänge von Entwicklung, Frieden und Sicherheit erforderten vielmehr einen umfassenden, sektoral koordinierten Politikansatz. So betont auch die Bundesregierung in ihrem Auftaktbeitrag zu ihrer neuen SSR-Strategie: „Die neue Strategie wird sich am Prinzip der menschlichen Sicherheit ausrichten, dem die Garantie des Rechts von Individuen auf ein Leben in Freiheit und Würde, frei von Armut, Furcht, Not und Verzweiflung zugrunde liegt.“

Das Novum bei dem neuen Ansatz bestand weniger in der Sensibilisierung von EZ-Akteuren für sicherheitspolitische Zusammenhänge, sondern darin, in Sicherheitskooperationen nicht bloß auf eine Train & Equip-Professionalisierung staatlicher Sicherheitsorgane zu setzen. Diese hatte nämlich nicht selten problematische Auswirkungen und verschärfte Konflikte sowie Unsicherheit für die zivile Bevölkerung. Prinzipien guter Regierungsführung und öffentlicher Rechenschaftspflicht sollten also mit auf die Agenda, ebenso wie eine Stärkung von BürgerInnen in ihrem Zugang zu Recht und staatlicher Daseinsfürsorge. Anders formuliert, die Orientierung an menschenrechtlichen Standards und menschlicher Sicherheit als Messlatten der Praxis wurde gerade deshalb als notwendige Kondition von SSR formuliert, weil die vorherige Konzentration der Ertüchtigungsprogramme auf verbesserte Ausstattung sich als dysfunktional erwiesen hatte.

Zwar haben internationale Organisationen wie die OECD und die SSR-Unit der Vereinten Nationen hierfür detaillierte Konzepte ausgearbeitet, doch nirgends gab es eine vollständige Implementierung dieser Normen, auch nicht seitens Deutschlands. Die Kritik, der das SSR-Anliegen als ahistorisch und überambitioniert gilt, macht es sich hierbei jedoch zu leicht. Denn während das SSR-Konzept auf dem Papier immer detaillierter und anspruchsvoller wurde, beschränkte sich die Praxis der Bundesregierung und anderer internationaler Akteure weiterhin auf zeitlich begrenzte Projekte, die oft nur einen kleinen Ausschnitt staatlicher Sicherheitsinstitutionen adressierten und wenig Koordination erkennen ließen. Somit wurde (auch) die Bundesregierung dem eigenen Postulat einer umfassenden Orientierung an menschlicher Sicherheit bisher nicht gerecht. Sicherheitserfordernissen wurde oft Vorrang gewährt, ihre Rückbindung an rechtsstaatliche Prinzipien vernachlässigt. Um sowohl der Dimensionen, auf die SSR sich vom Anspruch her bezieht, als auch der volatilen Situationen, in denen SSR als Transformationskonzept aufgerufen wird, gerecht zu werden, sollte die Bundesregierung deutlich längere Projektlaufzeiten für ihre SSR-Programme einplanen und deren einzelne Komponenten tatsächlich auch koordinieren.

Nichtstaatliche Sicherheitsakteure als Teil der Realität akzeptieren

Das Unterfangen, existente staatliche Sicherheitsakteure in einen sicherheitskulturellen Transformationsprozess zu involvieren, dazu auch noch kompetente zivile Kontrollinstitutionen zu schaffen und benachteiligte Bevölkerungsgruppen in ihrem Zugang zum Recht zu unterstützen, stieß selbst unter den vergleichsweise günstigen Voraussetzungen von demokratisierungswilligen postsozialistischen Gesellschaften im östlichen und südöstlichen Europa auf erhebliche Schwierigkeiten und Widerstände. Vor umso größeren Herausforderungen stehen SSR-Vorhaben unter Bedingungen fragiler Staatlichkeit, in hybriden politischen Ordnungen oder so genannten Postkonfliktsituationen.

Wo der Alltag sehr vieler Menschen in hohem Maß von Unsicherheit, Gewalterfahrungen und Mangel geprägt ist, ist Vertrauen in staatliche Daseinsfürsorge nicht gegeben und Selbstorganisation wird oder bleibt das strukturierende Prinzip. Von traditionellen Autoritäten bis hin zu verschiedenen Formen Vigilanter nehmen beispielsweise in Ländern West- und Zentralafrikas eine große Zahl nichtstaatlicher Akteure sicherheitsbezogene Funktionen wahr. Sie verfügen dabei über Zwangsinstrumente zur Durchsetzung von Ordnungsvorstellungen und eigenen Interessen sowie häufig auch über legitimierenden Rückhalt unter den örtlichen 'Endverbrauchern'. Die bisherige Strategie der meisten internationalen Akteure, mit SSR ausschließlich staatliche Institutionen in den Blick zu nehmen und anderen Akteuren im Feld rundweg die Legitimität absprechen, führt weder praktisch noch normativ aus den Dilemmata dieser Situation heraus.

Die Bundesregierung sollte den lokalen Kontext ernster nehmen

Demzufolge sind SSR-Ansätze, die sich an idealtypischer Staatlichkeit nach westlichen Vorbildern bzw. dem liberalen Frieden orientieren, aus zwei Gründen unangemessen: Einerseits auf Grund des anhaltenden strukturellen Paternalismus der Geber-/Adressaten-Beziehungen und andererseits wegen der unzureichenden Bereitschaft, abweichende Funktions-und Legitimitätslogiken in anderen Lebenswelten zu verstehen und anzuerkennen. Ebenso wie Friedens- und Demokratieförderung muss SSR-Politik die moralischen und epistemischen Fragen der Angemessenheit einer externen Intervention in ihren praktischen Wirkungen betrachten und daraus operative Schlüsse ziehen. Gerade in Fragen der 'local ownership' hinkt die Praxis dem erklärten Anspruch leider häufig weit hinterher. Wenn sie das gesellschaftlich praktizierte Sicherheitsmanagement umschiffen, werden externe SSR-Akteure der zentralen Bedeutung, welche die soziale Praxis für umfassende Veränderungsprozesse spielt, nicht gerecht.

Eine wichtige Konsequenz für die SSR-Strategie der Bundesregierung besteht darin, die spezifische Komplexität, vorhandene Handlungsrationalitäten und die Dynamik im sogenannten 'lokalen' Kontext ernster zu nehmen. So verlangt Friedensförderung beispielsweise die Entwaffnung, Demobilisierung und Reintegration von Kombattanten und zugleich die Stärkung der Rechte von (im politischen Sinne) Minderheiten, um menschliche Sicherheit zu verbessern. Konkret sind viele solcher Konstellationen weder trennscharf noch für die internationalen SSR-Projekteliten umgehend erkennbar.

Zeit- und Erwartungsdruck schränken den Handlungsspielraum ein

Auch 'lokale' Akteure sind divers und Teil komplexer Beziehungssysteme unterschiedlicher Reichweite. Sie verfolgen möglicherweise klientelistische Interessen und/oder eigene politische Ziele. Ebenso verfügen sie über unterschiedliche ökonomische, (macht)politische, soziale und Bildungs-Ressourcen, welche ihnen überhaupt erst den Zugang zu internationalen Akteuren und deren Reformprogrammen ermöglichen. Daher sollte sich die Bundesregierung mit Blick auf die beteiligten Stakeholder um ein differenziertes Bild bemühen.

Alle für SSR einschlägigen Ebenen zugleich zu adressieren ist nicht möglich. Dies führt in der Praxis zwangsläufig zu einer Konzentration auf Teilbemühungen. Gepaart mit dem unrealistischen Erwartungsdruck an einzelne Projekte, während zeitlich (zu) begrenzter Laufzeiten wirksame Veränderungen anzustoßen, beschränken sich internationale Akteure daher in aller Regel auf ohnehin bestehende Diskursgemeinschaften und Handlungsroutinen, die vom Alltag an der Basis teilweise sehr weit entfernt sind. Ein Beispiel ist die Durchführung von standardisierten Trainings über Prinzipien guter Polizeiarbeit, die dazu gehörigen Dokumentationspflichten und die Wichtigkeit von regelmäßigen Patrouillen im Zuständigkeitsbezirk vor PolizistInnen, denen die vorausgesetzten Arbeitsmittel und -techniken schlicht nicht zur Verfügung stehen.

Mit intrinsisch motivierten lokalen Partnern zusammenarbeiten

SSR-ExpertInnen, die keinerlei Kenntnisse zu Geschichte und Infrastruktur ihres Einsatzlandes mitbringen und weder kulturelle oder geopolitische noch klimatische Besonderheiten und deren Implikationen für das alltägliche Leben kennen, repräsentieren ein problematisches Fortschrittsdenken in Blaupausen und gefährden die Glaubwürdigkeit. Die Bundesregierung sollte (mehr) Wert darauf legen, ihrem Personal vor Ausbildungsmissionen auch landesspezifische Kenntnisse zu vermitteln. Zusätzlich sollte sie jene Akteure gezielt unterstützen, die eine intrinsische Motivation für eine Reform des Sicherheitssektors aufweisen. Praktisch müssen zu diesem Zweck die Gegebenheiten vor Ort von vornherein als spezifische Handlungsbedingungen in die Programmplanungen einfließen. Um an vorhandenes Wissen und funktionierende lokale Strategien anknüpfen zu können, müsste die Bundesregierung schließlich die Fähigkeiten und fallbezogenen Kenntnisse ihrer SSR-Fachkräfte den differenzierten Anforderungen entsprechend auf ein hohes Niveau bringen. 

Die Bundesregierung sollte sich bei der Notwendigkeit zum effizienten Einsatz von Ressourcen auf solche Fälle zu konzentrieren, in denen SSR (und nicht bloß Ausstattung!) vor Ort politisch gewollt ist und zugleich Rahmenbedingungen für eine institutionalisierte Zusammenarbeit gegeben sind. Eine materielle Ausrüstung von Sicherheitskräften sollte nicht erfolgen, sofern die Umstände des Gebrauchs dieser Ausrüstung im Reformgeschehen ausgeklammert bleiben. Auch wenn die hohen Ansprüche, für die SSR steht, nur langfristig einlösbar sind, können dann Etappenziele erreicht werden, die auf andere Politikfelder oder gesellschaftliche Teilsysteme ausstrahlen. Mit einem Zurück zur Priorisierung von technischer Beratung und materieller Ausstattung ist dies nicht möglich. Teil der SSR-Strategie der Bundesregierung sollte aus diesem Grund die operative Notwendigkeit der Abstimmung der verschiedenen Ressorts sein. Ansonsten geraten die gemeinsamen Ziele von Friedensförderung und Entwicklungszusammenarbeit, für die das SSR-Konzept den Blick geweitet hat, schnell außer Sicht gegenüber sicherheitsbezogenen Reformen. Eine Verengung auf Ausstattung und Training von Polizei, Militär, Zivil- und Katastrophenschutz zur Steigerung ihrer Professionalität, wie die Ertüchtigungsinitiative sie als pragmatischere SSR-Politik beschreibt, riskiert daher das wesentliche Potenzial des Reformkonzepts.