50 Jahre Rechtsstaatsreform: Es geht darum, Veränderungsprozesse zu gestalten

28. Mai 2019   ·   Karin Rölke

Schon seit 50 Jahren diskutieren Geberländer das Duo von Recht und Entwicklung. Die Lehre seitdem: Rechtsstaatsförderung (RSF) muss mehr sein als technische Rechtsreformen. Wichtige Voraussetzungen sind tiefes Verständnis des Kontextes, lokale Verantwortung und ausreichend Zeit – kombiniert mit Flexibilität in der Implementierung. Es gilt einen Veränderungsprozess zu gestalten.

Debatten

in Zusammenarbeit mit dem RSF-Hub der Freien Universität Berlin

Im Kontext der internationalen Entwicklungszusammenarbeit ist der Begriff Entwicklung gleichbedeutend mit der Verbesserung der Menschenrechte und des Wohlstandes wie auch in der Agenda 2030 deutlich wird. Die Ziele sind eine Welt zu schaffen, „in der die Menschenrechte und die Menschenwürde, die Rechtsstaatlichkeit, die Gerechtigkeit, die Gleichheit und die Nichtdiskriminierung allgemein geachtet werden“. 

Die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung formuliert als zentrale Aspekte den Wirtschaftswachstum voranzubringen, die Disparitäten im Lebensstandard zu reduzieren, Chancengleichheit sowie ein nachhaltiges Management von natürlichen Ressourcen zu schaffen, das den Erhalt von Ökosystemen gewährleistet und deren Resilienz stärkt. Diverse Studien haben eine positive Korrelation zwischen „Rechtsstaatlichkeit“ und verschiedenen sozioökonomischen Entwicklungsindizes nachgewiesen. In die Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung wurde Rule of Law als eigenes Ziel aufgenommen (Ziel 16).

Die Erfahrung zeigt: Nur Gesetze reichen nicht aus

Die in den letzten 20 bis 30 Jahren entwickelte Programmplanung für die Reform der Rechtsstaatlichkeit ist von der in den 1960er und frühen 1970er Jahren vorangegangenen Rechts- und Entwicklungsphase zu unterscheiden, obwohl es deutliche Überschneidungen gibt. Die frühe sogenannte Law and Development Movement war größtenteils ein US-amerikanisches Unterfangen, das hauptsächlich von USAID und der Ford Foundation finanziert wurde und sich auf das Fachwissen US-amerikanischer Wissenschaftler an den großen Rechtsschulen stützte. Ziel war es, die Justiz- und Rechtssysteme vieler Länder in den Entwicklungsländern zu reformieren, um deren wirtschaftliche Entwicklung zu unterstützen. Die ehrgeizigen Projekte beruhten auf der Überzeugung, dass gesetzliche Änderungen zu sozialen Veränderungen führen würden und dass das US-amerikanische Rechtssystem das beste Modell zur Unterstützung der wirtschaftlichen Entwicklung sei.

Die Bewegung wurde Mitte der siebziger Jahre von ihren wichtigsten Anhängern als gescheitert eingestuft. Sie kritisierten, dass es nicht klar war, mit welcher Wirkung das Recht die Entwicklung beeinflusste, dass es keine lokale Trägerschaft gab, dass der Fokus ganz auf dem formalen Rechtssystem lag (die traditionellen oder informelle Mechanismen fanden keine Berücksichtigung), und dass es sich auf die ethnozentrische Ansicht stützte, das amerikanische Rechtssystem könne erfolgreich in die Entwicklungsländer transplantiert werden.

Gerade in Postkonfliktstaaten gab es wenig Erfolge in der Rechtsstaatsförderung 

Der heutige Ansatz zur Reform der Rechtsstaatlichkeit ist ein globaleres Phänomen, das von einer weitaus größeren Zahl von Akteuren und Ländern unterstützt wird und auf der Grundlage der wirtschaftlichen Entwicklung, der Demokratie und des Friedens rationalisiert wird. Der Ansatz zur Reform und zum Wiederaufbau eines Rechtssystems ist insgesamt differenzierter. Es kann jedoch nicht schaden, einige der Lehren aus dem älteren Law and Development-Ansatz erneut zu verinnerlichen.

Auch wenn die Lehren bekannt sind, wirkt der Druck, schnell Ergebnisse zu erzielen, dem schrittweisen und inkrementellen Ansatz zur Rechtsreform entgegen, der durch unseren heutigen Kenntnisstand über das Verhältnis von Recht und Entwicklung gerechtfertigt ist. Es dauert Jahre bis gesetzliche Reformen Früchte tragen. Der 2000 erlassene südafrikanische Promotion of Access to Information Act bedarf nach wie vor unterstützende Programme, damit das Gesetz im rechtsstaatlichen Sinne umgesetzt werden kann. Eine Gesetzesreform allein wird nicht zu Veränderungen oder Entwicklung führen, sondern muss in einen umfassenden Entwicklungsansatz mit langfristigen Zielen eingebettet werden.

Dies gilt umso mehr für rechtsstaatliche Reformen in Postkonfliktstaaten. Diese haben ein starkes Bedürfnis nach Frieden und Sicherheit, Recht und Ordnung und Übergangsjustiz. Zu den größten Herausforderungen nach Bürgerkriegen zählen eine zerstörte Infrastruktur, zerstörte Institutionen, ein Mangel an beruflichen und bürokratischen Kapazitäten, eine entzündliche und gewalttätige politische Kultur sowie eine traumatisierte und stark gespaltene Gesellschaft. In Entwicklungsprogrammen wird der Schwerpunkt zunehmend auf die Reform der Rechtsstaatlichkeit gelegt. Die rechtsstaatlichen Ambitionen in friedensbildende Maßnahmen und staatsaufbauende Agenden einzubetten, ist ein besonderes Merkmal der Jahre nach 2000. Was dies für die Rechtsstaatlichkeitsagenda bedeutet, ist oft der Versuch, Rechtsstaatlichkeit im Kontext anhaltender Konflikte zu unterstützen.

Die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte bietet einen umfangreichen Katalog gezogener Lehren im Bereich Rechtsstaatsreform in fragilen oder Post-Konflikt-Ländern und allgemeiner in Entwicklungsländern. Zusammenfassend möchte ich insbesondere vier Erkenntnisse hervorheben:

1. Sozialen, historischen und politischen Kontext verstehen

Wer in einem Land eine Rule of Law Reform durchführen möchte, muss den sozialen, historischen und politischen Kontext verstehen. Jedes Land, jede Gesellschaft hat ein bestehendes Normen- und Wertesystem, das historisch bedingt ist. Insbesondere bei Reformprogrammen in Post-Konflikt-Staaten ist der politische Kontext hochrelevant, auch da hier Sicherheitsaspekte eine große Rolle spielen. Nur mit dem entsprechenden Kontextverständnis kann auch ein entsprechender Do no harm-Ansatz in der Programmierung entwickelt werden.

2. Lokale Eigenverantwortung und Führung voranstellen

Die lokale Eigenverantwortung umfasst die Festlegung von Prioritäten, Entwicklungspolitiken und -programmen. Geberländer müssen lokale Change Agents identifizieren. Initiativen zum Kapazitätsaufbau für staatliche Institutionen sollten in nationaler Verantwortung sein und auch von ihnen geleitet werden. Auch die lokale Zivilgesellschaft spielt eine bedeutende Rolle in der Gestaltung und Umsetzung eines Rule of Law-Prozesses und sollte voll einbezogen werden. Sowohl die Vereinten Nationen als auch die Europäischen Union nähern sich diesem Ansatz in den letzten Jahren.

3. RSF heißt, Veränderungsprozesse zu gestalten

Für den Erfolg einer Rechtsstaatsreform ist entscheidend, dass sie auf einem soliden Verständnis von Wandel und Change Management basiert.

Weit verbreitet ist noch immer die Annahme, dass die Rechtsreform ein technisches Unterfangen ist, das am besten den "Technikern" überlassen wird. Dies spiegelt auch den Glauben wider, dass das Problem der Rechtsstaatlichkeit in der Justiz angesiedelt ist und von Juristen zu lösen sei. In der Vergangenheit waren diese Juristen oft im globalen Norden ausgebildet worden und hatten wenig Erfahrung in Entwicklungs- oder Übergangsgesellschaften. Doch das Personal braucht nicht nur juristische Fachkenntnisse, sondern auch Netzwerke und Erfahrung in der Gestaltung von Veränderungsprozessen.

Die Theorie und Praxis des Wandels wurde von Rechtswissenschaftlern bisher eher vernachlässigt. In anderen Disziplinen wie Führungswissenschaft, Psychologie, Konflikttransformation, soziale Veränderungsbewegungen oder Quantenphysik ist es jedoch ein viel recherchiertes Thema. Die Forschung und Praxis aus diesen Disziplinen ist direkt anwendbar auf rechtsstaatliche Veränderungsbemühungen in konfliktbehafteten Ländern.

4. RSF braucht langfristiges Engagement und Flexibilität

Langfristiges Engagement führt zu besseren und nachhaltigeren Ergebnissen. Inkrementelle und kontextbedingte Veränderung sind vielversprechender als ein Ansatz „one size fits all“ oder „ready made“. Programme und Mitarbeiter müssen sich häufig an veränderte Kontexte und neue Möglichkeiten anpassen. Änderungen zu sequenzieren und zu priorisieren sollte als Teil des Reformvorhabens von Anfang an mitgedacht werden.

Die Entstehung des Afghanischen Strafgesetzbuches ist ein gutes Beispiel für RSF 

Ein schönes Beispiel, wo einige der oben genannten Ansätze (lokaler Kontext, local ownership, Zeit und indirekt auch der Veränderungsprozess) angewendet wurden, ist die Entstehung des Afghanischen Strafgesetzbuches und der Strafprozessordnung. Das am 4. März 2017 in Kraft getretene Strafgesetzbuch ist das erste, das Afghanistan seit über vier Jahrzehnten hat und wurde von der Arbeitsgruppe Strafrechtsreform zwischen 2012 und 2016 ausgearbeitet. Dies folgt auf die Überarbeitung der afghanischen Strafprozessordnung im Jahr 2010. Die Arbeitsgruppe bestand aus nationalen Fachleuten der verschiedenen relevanten afghanischen Ministerien und anderer relevanter Gruppen und wurde von ausgewählten internationalen Experten unterstützt. Der Prozess für beide Gesetze zog sich über einen längeren Zeitraum mit intensiven Arbeitssitzungen. Der Interim Criminal Procedure Code von 2004 hingegen wurde von einem italienischen Experten geschrieben ohne Einbeziehung lokaler Expertise. Entsprechend wurde er als Fremdkörper wahrgenommen und nicht angewendet.

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in Zusammenarbeit mit dem RSF-Hub der Freien Universität Berlin

Rechtsstaatsförderung

Karin Rölke

Dr. Karin Rölke arbeitet als Portfolio Manager Governance bei der GFA Consulting Group. Sie war zuvor u.a. in DR Kongo und Afghanistan für die Vereinten Nationen, die Europäische Union und Zivilgesellschaft tätig.