Krisenfrüherkennung: Von der Vorausschau zur Prävention

14. Juni 2021   ·   Sarah Bressan

In der Verbindung von Krisenfrüherkennung und Prävention liegen Potentiale für mehr außenpolitische Strategie- und Handlungsfähigkeit. Ob mit oder ohne Reform sicherheitspolitischer Entscheidungsgremien sollte die Bundesregierung Resilienzanalysen stärken, Handlungsoptionen ressortgemeinsam entwickeln, Warn- und Reaktionsprozesse überprüfen und Vorausschau fest verankern.

Im Sinne des Mantras “früher, entschiedener, substantieller” gehören Früherkennung und Prävention von krisenhaften Entwicklungen und Gewaltkonflikten schon lange zum außenpolitischen Leitbild der Bundesregierung. Beim Blick in den Bericht über die Umsetzung der Leitlinien für Krisenprävention und Friedensförderung wird deutlich, dass die Bundesregierung dieses Ziel seit 2017 mit Selbstverpflichtungen und Mitteln unterlegt hat. Vor allem im Auswärtigen Amt mangelt es seitdem nicht an Investitionen in vorausschauende Analysen.

Doch Früherkennung ist nicht gleich erfolgreiche Krisenprävention. Für den Brückenschlag zu entschiedenem, substantiellem und ressortgemeinsamem präventiven Handeln müssen vorausschauende Risiko- und Resilienzanalysen an passende politische Entscheidungsstrukturen gekoppelt werden. Für die kommende Bundesregierung bleibt allerhand zu tun. Sie sollte das Thema angehen, denn in der systematischeren Verbindung von Krisenfrüherkennung (KFE) und Prävention liegen Potentiale, die oft bemängelte außenpolitische Strategie- und Handlungsfähigkeit Deutschlands zu verbessern.

Datengestützte Krisenfrüherkennung: Klotzen statt kleckern

In den letzten zwei Jahren hat sich das Auswärtige Amt zum internationalen Champion für datengestützte Konfliktanalysen entwickelt. Die Erfahrungen mit der Entwicklung des Datentools PREVIEW und entsprechender Methodenexpertise (auf Zeit) im eigenen Haus haben ein Bewusstsein für die Möglichkeiten und Begrenzungen von Konfliktvorhersage geschaffen. Entsprechend bringt die Bundesregierung führende Wissenschaftlerinnen und Praktiker zusammen, wirbt mit ihrem internationalen Engagement für Austauschplattformen zur Frühwarnung wie dem EU Early Warning Early Action Forum, finanziert wichtige Datenquellen wie die Global Terrorism Database und trägt dazu bei, dass sich das Gravitationszentrum für Konfliktmodellierung von den USA nach Europa verschiebt.

Als Vorzeigeprojekt der Digitalisierungsstrategie der Bundesregierung soll PREVIEW mit einer Reihe von Anwendungen zum Informationsmanagement beitragen, sowie Analysen zu krisenhaften Entwicklungen und Konfliktpotentialen weltweit ergänzen und dadurch Handlungsspielräume vergrößern. Seit Ende 2020 dient es vor allem als Daten-Dashboard, auf dem öffentlich frei einsehbare Daten für den diplomatischen Alltag maßgeschneidert aufbereitet werden. Zudem beauftragte das Auswärtige Amt einen Drittanbieter mit dem Aufbau der technischen Infrastruktur, die unter anderem den Betrieb eines Konfliktvorhersagemodells ähnlich des Global Conflict Risk Index der Europäischen Union ermöglicht. Dieses generiert quartalsweise eine Liste von Ländern mit erhöhten Krisenpotenzialen.

Parallel tüfteln Analysten an der Universität der Bundeswehr im Auftrag des BMVg an einem zweiten, „im Hinblick auf den Zweck und seine Funktionalitäten vergleichbaren“ Datentool. Auf Arbeitsebene gibt es regen Austausch und die Ministerien wollen künftig noch stärker kooperieren. Langfristig ist eine ressortübergreifende, auf PREVIEW aufbauende Plattform für Vorausschau und Evidenz geplant.

Vorausschau als Mittel gegen Führungsschwäche

Da politische Krisen notorisch schwer vorauszusagen sind, gehört zum Instrumentenkasten der Früherkennung auch die strategische Vorausschau. Statt mathematischer Wahrscheinlichkeiten entwickeln Expertinnen und politische Entscheidungsträger Zukunftsszenarien, um den möglichen Verlauf komplexer Prozesse in der Zukunft zu diskutieren und darauf basierend strategische Handlungsoptionen zu entwerfen – wie kürzlich für Auswirkungen der COVID-19-Krise auf die europäische Nachbarschaft. Das Auswärtige Amt will strategische Vorausschau und datengestützte Vorhersage zudem stärker verknüpfen. Aus der Wissenschaft gibt es inzwischen erste Ansätze, wie sich die jeweiligen Methoden für bessere vorausschauende Politik ergänzen können.

Tatsächlich ist das erklärte Ziel der Bundesregierung für die Vorausschau nichts Geringeres als die Stärkung der Strategie- und Handlungsfähigkeit Deutschlands in der Außen- und Sicherheitspolitik. Und aufzuholen gibt es Einiges, sei es in Bezug auf zögerliches Handeln, mangelhafte sicherheitspolitische Entscheidungsstrukturen, oder Hindernisse im ressortgemeinsamen Handeln. Auch die Fachkommission Fluchtursachen bemängelt die unzureichende Anbindung von Früherkennung an Strategiebildung, politische Entscheidungsprozesse und Personal vor Ort.

Dabei bieten Prozesse zur Krisenfrüherkennung großes Potential, die deutsche Führungsschwäche „entschieden und substantiell“ anzugehen. Ansätze für ressortgemeinsame Strukturen gibt es bereits: Die vierteljährlich tagende Arbeitsgruppe Krisenfrüherkennung bespricht Analyseergebnisse der Ressorts für die kommenden 24 Monate. Sie soll Analyse- und Handlungsempfehlungen für eine Koordinierungsgruppe auf Abteilungsleitungsebene vorlegen. Doch diese Koordinierungsrunden sind keine echten politischen Entscheidungsstrukturen, die deutsche Außenpolitik maßgeblich beeinflussen. Damit sich die Investitionen in Früherkennung lohnen, sollte die neue Bundesregierung mit dem Brückenschlag von Früherkennung zu präventivem Handeln ernst machen und folgende Elemente stärken:

1. Strategische Handlungsoptionen: Ressortgemeinsam entwickeln

Ressorts sollten neben gemeinsamer Analysen vor allem bei der Entwicklung von Handlungsoptionen kooperieren. Praxis und Forschung zeigen, dass der größte Mehrwert strategischer Vorausschauprozesse die direkte Wirkung des Aushandlungsprozesses auf die beteiligten Teilnehmerinnen im Raum ist. Von Personal aus verschiedenen Häusern gemeinsam entwickelte strategische Handlungsoptionen können in den jeweiligen Ministerien anschließend weiter angepasst werden. Das dafür notwendige Abwägen von Interessen und strategischen Zielen bietet viel Zündstoff für kontroverse Diskussionen, ist aber zentral, um eine gemeinsame strategische Kultur als Grundlage für bessere ressortgemeinsame Entscheidungsprozesse zu entwickeln, die frühes Handeln ermöglichen. 

2. Form folgt Funktion: Vorausschau von der ersten bis zur letzten Meile denken

Ressortgemeinsame Zusammenarbeit funktioniert in Zielländern oft besser als zwischen den Zentralen in Berlin. Das Sammeln und einordnen von Informationen vor Ort des Geschehens –  auf der sogenannten ersten Meile eines Früherkennungsprozesses – spielt in Debatten zur vorhersagebasierten humanitären Hilfe eine zentrale Rolle. Im Bereich der politischen Krisenprävention ist dieses Element ausbaufähig. Die Ministerien sollten auf der Analyseebene von Ländervertretungen aufbauend die Länder- und Lokalexpertise aller Ressorts in Früherkennungsprozessen stärken, sie strukturiert einbeziehen und somit zu besserer ressortgemeinsamer Präventionspolitik beitragen.

Damit Krisenfrüherkennung langfristig einen Mehrwert leisten kann, müssen die Ministerien zudem Ziele, Analysemethoden und echte politische Entscheidungsprozesse als letzte Meile des Frühwarnprozesses aufeinander abstimmen. Soll Früherkennung dabei helfen, Präventionsausgaben anhand von Risikobewertungen stärker zu fokussieren und – wie im Falle der EU – regelmäßig das eigene Engagement in einzelnen Ländern und Regionen über alle Ressorts hinweg nachzujustieren? Soll ein Früherkennungssystem Warnungen vor krisenhaften Entwicklungen inklusive Massenverbrechen produzieren, um schnelle Reaktionen auf höchster politischer Ebene zu ermöglichen? Will die Bundesregierung auch langfristige, systemische Veränderungen auf globaler Ebene in ihre Vorausschauprozesse einbeziehen? 

Bisher probieren Analyseteams zu Recht aus, wie sie als service provider einen Mehrwert leisten können. Flexibilität ist wichtig, denn je nach Anwendungsfall können die Ziele variieren und entsprechend unterschiedliche Vorausschaumethoden kombiniert werden. Doch der Abgleich von Angebot ungewohnter Produkte und Nachfrage durch etablierte Strukturen ist zu häufig der Verortung des Analyseteams im Organigramm des Ministeriums und der Begeisterung einzelner Beamter für das eine oder andere Datenprodukt überlassen. Eine bedarfs- und möglichkeitsorientierte Priorisierung würde helfen, begrenzten Ressourcen zu fokussieren. Um konsequent vorausschauendes Handeln zu ermöglichen, ist deshalb nach einer Testphase die Zeit reif, Früherkennungsprozesse von der ersten bis zur letzten Meile zu verankern: konkretere Ziele formulieren, Analyseprozesse für unterschiedliche Anwendungsfälle etablieren und deren Rolle in Entscheidungsprozessen stärken.

3. Ansatzpunkte finden: Resilienzfaktoren analysieren und stärken

Auf EU-Ebene hat das Resilienzkonzept dabei geholfen, zwischen außen-, verteidigungs- und entwicklungspolitischen Interessen zu vermitteln. Die Bundesregierung hat sich zu seiner Umsetzung bekannt. Auch wenn viele Ereignisse unvorhersehbar bleiben, kann sie basierend auf Analysen von Resilienzfaktoren gegen Krisen und Konflikte die gesellschaftliche Widerstandskraft fördern und so zu Prävention beitragen. Dies setzt ein besseres Verständnis davon voraus, welche vorhandenen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Gegebenheiten einer potentiellen Krisenregion verschiedene Resilienzfaktoren wie soziales Vertrauen, Zusammenhalt und Legitimität von Regierungsinstitutionen begünstigen.

Allerdings sind entsprechende Methoden in der Krisenfrüherkennung wenig entwickelt. In den KFE-Prozessen im Auswärtigen Amt und der ressortgemeinsamen Arbeitsgruppe sowie bei Kontextanalysen für Stabilisierungs- und Entwicklungspolitik gibt es bereits Ansätze. Die Bundesregierung sollte in ihrer Zusammenarbeit mit Partnern wie der EU und der Weltbank sowie der Wissenschaft neben der Integration unterschiedlicher Risikovorhersagemethoden auch die Weiterentwicklung und Anwendung von Resilienzanalysen und -maßnahmen fördern und so das krisenpräventive Potential gesellschaftlicher Resilienz realisieren.

4. Präventionsdilemma vermeiden: Maßnahmen transparent überprüfen und anpassen

Transparenz über Krisenfrüherkennungsprozesse listet die Bundesregierung im Leitlinien-Umsetzungsbericht selbstkritisch unter „Was noch zu tun ist.“ Auch wenn der Umsetzungsstatus einiger Aktivitäten tatsächlich vage bleibt, muss sich die Bundesregierung nicht verstecken. Kapazitäten aufzubauen braucht Zeit. In wissenschaftliche Grundlagen, internationale Kooperation und Pilotprojekte zu investieren, ist besser, als vorschnell Prozesse zu etablieren, die dann nicht funktionieren.

Doch außenstehende Erwartungen an Zukunftsvorhersagen schwanken zwischen überzogen (auch dank überladener Begriffe wie „künstlicher Intelligenz“) oder grundskeptisch in Anbetracht des finanziellen Aufwands und der Volatilität globaler Politik. Das Präventionsdilemma lautet nicht umsonst: bleibt eine Krise aus, ist erfolgreiche Prävention meist unsichtbar. Wenn Prävention politisches Kernziel ist, ist das ein Problem. Deshalb hat beispielsweise die EU kürzlich die Auswirkungen ihres Frühwarnsystems evaluiert. Wenn auch im Post-COVID-19-Haushalt weiterhin öffentliche Mittel in ähnlicher Größenordnung fließen und sinnvoll investiert werden sollen, sollte die Bundesregierung ihre Anstrengungen in der Krisenprävention regelmäßig unabhängig überprüfen lassen und helfen, den Beitrag von Prävention aktiv sichtbar zu machen. Eine Überprüfung aktueller und länger zurückliegender Warn- und Reaktionsprozesse wie im Fall Ruanda 1994 ist hilfreich, um Kapazitäten richtig auszurichten, stetig anzupassen und aus (Miss-)Erfolgen zu lernen.

Transparenz ist auch für die methodische Weiterentwicklung wichtig, zum Beispiel im Rahmen von Vorhersagewettbewerben und Begutachtungsverfahren für Vorhersagemodelle. Hierfür sollten die Ressorts mit der Wissenschaft und miteinander kooperieren und die interne Methodenexpertise ausbauen. Nur so können die Ministerien sicherstellen, dass sich ihre jeweiligen Ansätze und Methoden konstruktiv ergänzen, sie systematisch zusammenführen und an politische Herausforderungen, bürokratische Bedarfe und Entscheidungsprozesse anpassen.

5. Momentum nutzen: Einbettung in ein regierungsweites Vorausschausystem

Zuletzt bleibt die Frage, ob die nächste Bundesregierung der strategischen Vorausschau in Anbetracht ihrer Potentiale für Handlungs- und Strategiefähigkeit insgesamt eine prominentere Rolle in ihrem institutionellen Gefüge einräumen sollte. Wieso nationalen Sicherheitsrat für eine strategische Kultur, Führungsfähigkeit und strategische Vorausschau nicht gleich zusammendenken?

Die Bundesregierung engagiert sich zwar international für Vorausschau und ist bei datengestützter Krisenvorhersage vorne mit dabei, kann sich aber bei der Ausgestaltung eines umfassenden nationalen Vorausschausystems einiges von Vorbildern wie Finnland und den USA abschauen. Neuere Foren wie das Netzwerk Strategie und Vorausschau, das Kompetenzzentrum Strategische Vorausschau der Bundesakademie für Sicherheitspolitik und der Ressortkreis Strategische Vorausschau des Bundeskanzleramtes, an dem weit mehr Ressorts beteiligt sind als an Früherkennung im Rahmen der Leitlinien, zeigen, dass der methodische Mehrwert gesehen wird. Ressorts wie Umwelt und Gesundheit haben einen großen Erfahrungsschatz im Umgang mit Vorhersagemodellen, die ohnehin Schnittstellen mit moderner Sicherheitspolitik bieten. Und kluge, vorausschaubasierte Verfahren, die die breite Bevölkerung in Zukunfts- und Strategiefragen einbeziehen, sind in Anbetracht des Zustandes öffentlicher Debatten über Sicherheitspolitik sowieso dringend notwendig.

Sollte die neue Bundesregierung die große Reform sicherheitspolitischer Entscheidungsstrukturen angehen, wird die Weiterentwicklung bestehender Krisenfrüherkennungs- und Handlungsentwicklungsprozesse darin ihren Platz finden müssen. Falls es nicht die ganz große Strukturreform wird, dann sind ressortgemeinsame Krisenfrüherkennungsprozesse eine unausweichliche Alternative mit guten Ansatzpunkten für mehr: „weiter so – aber früher, entschiedener und substantieller.“

Early Action Krisenprävention Ressortgemeinsamkeit

Sarah Bressan

Sarah Bressan ist Research Fellow am Global Public Policy Institute (GPPi) und leitet seit 2020 das Redaktionsteam des PeaceLab-Blogs. @bressansar