Ägypten: Lackmustest für eine europäische SSR-Strategie

28. Juni 2018   ·   Roderich Kiesewetter

Die ägyptische Regierung weist wenig Bereitschaft auf, ihren Sicherheitssektor zu reformieren. Für eine stärkere Verhandlungsposition sollte die Bundesregierung in Ländern wie Ägypten daher einen europäischen SSR-Ansatz verfolgen. Hierfür müsste sie auch die Mechanismen der nationalen Ressortkoordinierung klären.

Die Stabilität Nordafrikas ist ein zentrales Interesse der Europäischen Union. Denn diese Staaten sind einerseits Transitländer für Migration aus Sub-Sahara-Afrika und können andererseits selbst zu Herkunftsländern von Migration werden. Beschäftigungsmöglichkeiten für die wachsende Zahl an jungen Menschen erfordern Entwicklungsperspektiven. Die staatliche Instabilität und unzureichende oder gar gänzlich fehlende Kontrolle über die Sicherheitsinstitutionen stehen solchen Perspektiven im Weg. Die „menschliche Sicherheit“ sowie das Vertrauen in den Schutz der Sicherheitskräfte, Repressionsfreiheit und die Durchsetzung grundlegender Menschenrechte sind Grundbedingungen dafür, ethnische oder religiöse Auseinandersetzungen zu vermeiden. Wenn allerdings Sicherheitskräfte als tragende Säule einzig der repressiven Herrschaftssicherung dienen und sich nicht für Reformen öffnen, ist das nicht im europäischen Interesse.

Neben Algerien ist Ägypten der schwierigste Partner in Nordafrika. Der postulierte Anspruch eines „demokratischen und rechenschaftspflichtigen“ Sicherheitssektors muss sich hier ebenfalls widerspiegeln: Es darf keine „Rabatte“ in Form von Maßnahmen geben, die die Repression als Ursache für die schlechte Menschenrechtslage ausklammern. Eine außenpolitische Strategie mit einer SSR-Komponente muss sich auch von alten Vorstellungsmustern verabschieden: Nordafrika und seine autoritären Staaten sind kein „Schutzwall“ gegen nach Europa „überschwappende Fluchtwellen“.

Ägypten nutzt Migrationsdruck für Verhandlungsmacht gegenüber der EU

Gerade Ägypten ist ein potentieller Unruheherd: Die demografische Entwicklung – schätzungsweise rund 100 Millionen Einwohner in 2020, zwei Drittel davon jünger als 29 Jahre und notwendigen 600.000 neuen Arbeitsplätzen pro Jahr – fordert den Staat immens heraus und stellt somit für die Region und automatisch für die EU ein hohes Instabilitätsrisiko dar.

Eine Destabilisierung des ägyptischen Militärregimes hätte massive Folgen für die Nachbarstaaten des Maghreb. Die ungezähmte Ausbreitung von Terrorgruppen, ein starker Anstieg ägyptischer Emigration würde beispielsweise Tunesien als einzigen Hoffnungsschimmer für eine demokratische Transformation massiv bedrohen und den Staatsbildungsprozess in Libyen weiter erschweren.

Ägypten nutzte bislang den steigenden Migrationsdruck, um seine Verhandlungsmacht gegenüber der EU zu stärken. Die Schließung der Seegrenzen wurde erfolgreich von EU-Finanzhilfen abhängig gemacht. Darüber hinaus fordert Ägypten Ausrüstungshilfe für seine Sicherheitskräfte, um effektiver gegen Schleusung und Terror vorgehen zu können und lenkt dabei davon ab, dass noch immer kein Asylsystem eingeführt wurde. Deshalb wäre es kurzsichtig, anzunehmen, ertüchtigte Sicherheitskräfte würden automatisch dazu beitragen, dass Migration besser gesteuert wird. Vielmehr ist der Sicherheitssektor zentrales Instrument der Repression und trägt seinerseits langfristig eher zur Flucht bei. Der Sicherheitssektor ist deshalb in erster Linie kein Einflusshebel für die EU, um Fluchtursachen zu beheben, sondern ein Instrument der Regierung, seine Erpressungstaktik gegenüber Europa verfolgen zu können. Ägypten fehlt es nicht an Kapazitäten, sondern am Willen, irreguläre Migration zu steuern!

Die EU ist kein natürlicher Partner Ägyptens

Die „Ertüchtigung“ des ägyptischen Sicherheitssektors dient nur dann unserem Interesse, wenn Sicherheitsbehörden auch tatsächlich organisierten Menschenhandel und Korruption bekämpfen, das Vertrauen der Gesellschaft gewinnen und somit das staatliche Gewaltmonopol legitimieren. Die jetzige Entwicklung in Ägypten zeigt jedoch in die Gegenrichtung, wodurch in Zukunft der ohnehin schon brüchige Gesellschaftsvertrag der Militärregierung weiter erodieren könnte.

Das Deutsch-Ägyptische Sicherheitsabkommen von 2016 ist sicher ein erster Schritt, um bessere Verbindungen aufzubauen, Vertrauen zu gewinnen und die administrativen Strukturen des Sicherheitssektors besser einzuschätzen. Jedoch bereitet diese technisch-fokussierte Zusammenarbeit noch nicht den Boden für einen „demokratisch kontrollierten“ Sicherheitssektor.

Ein ausgedehntes Engagement birgt immanent das Risiko, dass gestärkte Kapazitäten sich rasch zum Bumerang entwickeln, wenn die Regierung ihre Sicherheitskräfte dafür einsetzt, Migranten gezielt aus dem Land zu treiben oder aufgrund der angespannten innenpolitischen Lage die Stimmung gegen sogenannte „Fünfte Kolonnen“ der Muslimbruderschaft anzuheizen.

Ägypten übt sich zudem keineswegs in außenpolitischer Kontinuität bei der Partnerwahl, sondern sucht sich je nach Themenfeld ganz bewusst Vorteile auf bilateraler Ebene mit wechselnden Allianzen. Die EU ist also kein natürlicher Partner oder Vorbild. Dies muss uns bewusst sein, wenn wir Hebel für eine nachhaltige Entwicklung in Ägypten erhalten wollen.

Nicht den eigenen Einfluss überschätzen

Ein isoliert betrachtetes bilaterales Engagement Deutschlands läuft die Gefahr, den eigenen Einfluss zu überschätzen. Realistische Erwartungen und klare Zielsetzungen sind die Grundlagen, um einen „Modus Operandi“ zu schaffen. SSR als sensibles Teilinstrument ist darauf angewiesen, dass sich die jeweiligen Engagements der europäischen Staaten nicht gegenseitig konterkarieren oder auf Basis unterschiedlicher Analysen erfolgen. Entscheidend ist, dass Deutschland gemeinsam mit starken EU-Partnern seine Bemühungen zur Bekämpfung der Fluchtursachen und zur Förderung stabiler Staatlichkeit in ein Maßnahmenbündel gießt, das sich an klaren Interessen und Kriterien orientiert.

Rein nationale Vorgehensweisen, die ohne diese gesamtpolitische Einbettung auf den kleinsten gemeinsamen Nenner mit Ägypten setzen, laufen auf „Train & Equip“-Maßnahmen hinaus – losgelöst von einer vernetzten Konzeption mit entwicklungspolitischen Elementen. Verbesserte Menschenrechte und mindestens eine transparentere Aufsicht über Polizei und Militär müssen stets Teil des SSR-Konzepts sein.

Gemeinsam europäischen Druck aufbauen

Die sicherheitspolitische Rolle der EU in Ägypten ist eher gering. Angesichts des nicht erkennbaren Reformwillens Ägyptens im Sinne unserer Ansprüche an nachhaltige SSR muss die EU ihrerseits Verhandlungsdruck aufbauen. Es muss ein „Gelegenheitsfenster“ geschaffen werden, um Zugeständnisse Ägyptens zu erreichen. EU-Finanzhilfen sind strikter an zivilgesellschaftliche Öffnung und Menschenrechte zu koppeln. Deutschland kann dies zudem mit seiner Stimme im Rahmen der IWF-Kreditvergabe 2019 unterstreichen.

Auf dieser Basis sind abgestuft und konditioniert weitergehende Kooperationsangebote wie Visavereinfachung, Studentenvisa und temporäre Arbeitsmigration möglich. Nur wenn die Regierung zu mehr Transparenz und zivilgesellschaftlicher Öffnung bereit ist, kann auch SSR einen positiven Effekt entfalten.

Deshalb sind für eine starke europäische Haltung gegenüber Ägypten die nationalen Ertüchtigungsprojekte abzustimmen. Ägypten zeigt sich bislang in der Zusammenarbeit äußerst zurückhaltend, wenn es darum geht, die Funktionsweise und Strukturen seines Sicherheitssektors offenzulegen.

Eine gemeinsame Beurteilung der Kernprobleme des Sicherheitssektors und ein aufgabenteiliges Vorgehen sind deshalb notwendig. Sinnvoll wäre es deshalb, dass sich die Bundesregierung zum Beispiel mit Frankreich auf Bereiche der Zusammenarbeit mit Ägypten verständigt, die jeweils die Kernexpertisen des deutschen und französischen Fähigkeitsrepertoires berücksichtigen – begonnen mit niedrigschwelligen Projekten wie Flughafensicherung (Deutschland) oder besserer Ausrüstung zur Grenzsicherung (Frankreich).

Ein gut koordiniertes, wenn auch lückenhaftes SSR-Konzept ist besser, als isolierte Nischenprogramme, die nicht miteinander verzahnt sind! Entscheidend ist, dass die europäischen Partner durch einen klaren Rahmen ihres SSR-Engagements vermeiden, sich gegenüber Ägypten auseinanderdividieren zu lassen. Deutschland könnte in einem ersten Schritt gemeinsam mit europäischen Partnern die bilateralen Engagements auf eine gemeinsame konzeptionelle Grundlage stellen.

Sinnvoll wäre ein sequenzierter Ansatz: Ziele definieren, Mittel festlegen, Projekte abstimmen, Ergebnisse evaluieren. Die Bundesregierung sollte dazu prüfen, ob das Modell des „Rahmennationenkonzeptes“ auf die SSR-Bemühungen der EU anwendbar ist. Das deutsche Engagement muss stets daran orientiert sein, administrative Kapazitäten und Menschenrechtsstandards zu stärken bzw. diese nicht weiter zu schwächen. Andernfalls wäre ein Rückzug aus einem begonnenen Engagement folgerichtig.

Mehr Mut zur Evaluierung und Ressortkoordinierung

Nicht zuletzt muss eine solche praktikable SSR-Strategie abgestimmt und vernetzt mit den Ressorts der Bundesregierung sein. Diese müssen Maßnahmen darauf evaluieren, ob sie kohärent mit den außenpolitischen Zielen gegenüber Ägypten sind, beispielsweise in Form von „Fortschrittsberichten“ und ihrer Behandlung in den zuständigen Ausschüssen des Deutschen Bundestags. Die Bundesregierung muss auch widersprüchliche oder konterkarierende Maßnahmen der europäischen Partner identifizieren.

Im Sinne einer rasch zu lösenden Bündelung der Ressortkompetenzen für diese strategische Kohärenz sind regelmäßige Absprachen der Abteilungsleiter sinnvoll, sei es zum Beispiel mit rotierendem Vorsitz oder auch in Pilotfunktion bei einem Ministerium. Hier muss die Bundesregierung mehr Mut aufbringen und die Kompetenzaufteilung rasch klären. Fernziel könnte die institutionelle Verankerung in einem Unterausschuss des Bundessicherheitsrats sein, der Maßnahmenpakete auf Staatssekretärsebene schnürt und aufeinander abstimmt.

Strategiefähigkeit beweisen

Für eine einflussreiche europäische Interessenspolitik in einer strategisch so wichtigen Region wie Nordafrika ist neben der Frage von Ressourcen, Zuständigkeiten und transatlantischer Lastenteilung eine glaubwürdige Verhandlungsposition entscheidend. Es muss ein Momentum geschaffen werden – unterlegt mit diplomatischem Druck und klaren finanziellen Anreizen. Die Vorzeichen in Ägypten sind nicht besonders ermutigend. Das Gebot der Stunde darf deshalb nicht kurzfristiges Handeln sein, sondern realistische Einschätzungen basierend auf gemeinsamen Analysen der Herausforderungen. Wir müssen auch ein Scheitern und dessen Konsequenzen einkalkulieren, das ist ebenfalls ein Zeichen von Strategiefähigkeit. 

Ägypten weist weder die Bereitschaft auf, einen allgemeinen Willen für eine Re-Strukturierung des Sicherheitssektors umzusetzen, noch zivilen Akteuren mehr Raum für transparente Kontrolle zu erlauben. Deutschland sollte die Kraft entwickeln, die Initiative für eine geschlossene Haltung sowie gemeinsame und ambitionierte Zielsetzungen der engagierten EU-Staaten zu ergreifen. Dies wäre ein Beitrag dazu, „transatlantisch zu bleiben“ – im Sinne balancierter Lastenteilung – aber „europäischer“ zur Wahrnehmung elementarer Sicherheitsinteressen zu werden.