Für einen vernetzten Multilateralismus

18. Januar 2021   ·   Marianne Beisheim, Felicitas Fritzsche

Die Bundesregierung sollte auf einen vernetzten Multilateralismus mit den UN im Zentrum setzen, um globale Probleme sektorübergreifend zu bearbeiten. Dafür sind inklusive Prozesse und Partnerschaften mit nicht-staatlichen Akteuren unabdingbar. Deutschland sollte daher den UN-Wirtschafts- und Sozialrat stärker gestaltend nutzen und Reformideen vorantreiben.

Die bisherige Debatte auf diesem Blog bestätigt: Multilateralismus soll kein Selbstzweck sein, sondern für das globale Gemeinwohl effektiv liefern und dabei durch Normen geleitet sein. Die Vereinten Nationen (UN) sollten im Zentrum stehen, durch Reformen stärker und gerechter werden, während Koalitionen der Willigen als Treiber dienen. Klar ist, dass sich dafür sowohl die UN als auch die Unterstützer eines solchen Multilateralismus neu aufstellen müssten.  

Networked Multilateralism“, also „vernetzter Multilateralismus“, ist ein Begriff, den der UN-Generalsekretär seit seinem Amtsantritt mehrfach verwendet hat, jüngst wieder im Rahmen seiner Rede vor dem Bundestag. Ein integrierter und inklusiver Multilateralismus sei nicht nur notwendig angesichts der COVID-19-Pandemie, der Ansatz könne auch dazu beitragen, multilaterales Handeln effektiver und resilienter zu machen, insbesondere für die von den UN-Mitgliedstaaten ausgerufene Dekade des Handelns. Die Bundesregierung sollte die UN für einen vernetzten Multilateralismus stärken. Dafür bedarf es konkreter Umsetzungsideen. Ein Weißbuch kann hier Orientierung geben.

Ein vernetzter Multilateralismus sollte Probleme ganzheitlich bearbeiten und relevante Akteure mobilisieren  

Ein vernetzter Multilateralismus mit den UN im Zentrum sollte sich insbesondere durch zwei Qualitäten auszeichnen:

  • Erstens sollten komplexe Probleme integrierter bearbeitet werden, um bestmöglich Synergien zu nutzen und Zielkonflikte aufzulösen (ähnlich dem vernetzten Ansatz der Bundesregierung zu Sicherheit, Frieden und Entwicklung). Der Global Sustainable Development Report 2019 zeigt eindrücklich auf, wie wichtig es ist, Verbindungen zwischen Themen und Sektoren zu berücksichtigen, wenn Ziele effektiv und effizient erreicht werden sollen. Dies gilt insbesondere für globale Güter, wie etwa beim Schutz von Klima und Biodiversität oder bei der Pandemiebekämpfung.
  • Zweitens sollten dafür alle relevanten Akteure inklusiver sektorübergreifend mobilisiert werden. Die zielgerichtete Zusammenarbeit muss sowohl UN-intern, als auch mit externen Unterstützern besser werden. Neben der ersten UN (der intergouvernementalen Versammlung der Mitgliedstaaten) und der zweiten UN (dem Apparat der Sekretariate) verweisen Experten auf die Bedeutung der dritten UN, den informellen Netzwerken UN-naher staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen und Akteure. 

Beides ist schon länger erkannt und sogar in UN-Resolutionen mandatiert – aber bislang nicht überzeugend umgesetzt. Die 2015 im Konsens verabschiedete 2030 Agenda für nachhaltige Entwicklung bietet sich als Bezugspunkt und wichtiges Regelwerk für einen vernetzten Multilateralismus an. In der Agenda haben die Mitgliedstaaten ihren Willen bekräftig, multilaterales Handeln inklusiver (leave no one behind) und integrativer (integrated solutions) gestalten zu wollen. Jüngst haben das die UN-Mitgliedstaaten in ihrer politischen Erklärung zum 75. Jubiläum der UN bestätigt und die 2030 Agenda und 17 Sustainable Development Goals (SDGs) als „Roadmap“ ausgerufen – ein Ruf, der in der Außenpolitik Deutschlands noch nicht voll angekommen ist.  

Netzwerkknoten im UN-System im Sinne der 2030 Agenda besser nutzen  

Das Engagement des Auswärtigen Amtes (AA) für die Vereinten Nationen ist vor allem dann öffentlich sichtbar, wenn Deutschland nichtständiges Mitglied im UN-Sicherheitsrat ist, der auch ausdrücklich als „wichtigstes UN-Gremium“ bezeichnet wird. Für einen vernetzten Multilateralismus ist jedoch der weniger beachtete Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) aufgrund seiner Koordinierungsfunktionen ein wichtiger Netzwerkknoten. Oder besser gesagt: er könnte es sein, wenn er nicht so fragmentiert und verkrustet wäre – daher muss die Reformdebatte vorangetrieben werden. Deutschland ist ein quasi-ständiges Mitglied im ECOSOC und sollte sich hier stärker engagieren.  

Nach Verabschiedung der 2030 Agenda sind viele Arbeitsprozesse des ECOSOC Systems reformiert worden, zumindest an der Oberfläche. Das im ECOSOC verankerte UN-Entwicklungssystem liefert wichtige Werkzeuge dafür, die Mehrzahl der UN-Mitgliedsstaaten in die Lage zu versetzen, die SDGs zu erreichen und dabei auch ihre Beiträge zum Schutz globaler Güter zu leisten. Neben Finanzierungsfragen ist hierfür vor allem Kooperation bei der Entwicklung und dem Transfer von Technologien und Innovationen wichtig, letzteres vor allem für Schwellenländer. Funktionierende Rahmenbedingungen dafür zu schaffen, ist entscheidend für rechtzeitige Erfolge beim globalen Klima- und Biodiversitätsschutz. Dafür bedarf es eines strategischeren Zusammenspiels wirtschafts-, entwicklungs- und außenpolitischer Ressorts. Zukünftig könnte der ECOSOC auch im Kontext der Antwort der UN auf die COVID-19-Pandemie – „Recover Better“ – weiter an Bedeutung gewinnen.  

Eine innovative Keimzelle für einen vernetzten Multilateralismus ist das Hochrangige Politische Forum zu Nachhaltiger Entwicklung (HLPF), das die Umsetzung der 2030 Agenda und SDGs politisch begleitet. Das Forum weist einige Besonderheiten auf: zum einen findet es alljährlich unter der Schirmherrschaft des ECOSOC und alle vier Jahre auch der Generalversammlung statt, was eine einzigartige Vernetzung im UN-System ist. Zum Zweiten lockt es erfolgreich Delegationen aus allen Mitgliedstaaten und zahlreiche Vertreter*innen aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und lokalen Regierungen nach New York. Zum Dritten ist das Programm integrativ und inklusiv gestaltet: In den offiziellen Sitzungen diskutieren die Mitgliedstaaten die Umsetzung der SDGs unter Berücksichtigung von thematischen Querbezügen zu anderen Sektoren, und nichtstaatliche Akteure nutzen ihre weitgehenden Partizipationsrechte. In informellen Formaten werden Koalitionen der Willigen geschmiedet bzw. deren Ergebnisse präsentiert. Auch Repräsentant*innen aus dem gesamten UN-System sind vor Ort, vor allem aus den für die jeweiligen Unterziele und Indikatoren zuständigen „custodian agencies“. All dies bietet ideale Anknüpfungspunkte für einen vernetzten Multilateralismus – nirgendwo sonst wird im UN-System derart integriert und inklusiv gearbeitet. Das sollte sich auf nationaler Ebene im Engagement aller relevanten Ressorts der Bundesregierung spiegeln. So wäre es wertvoll, wenn das AA sein Wissen um Prozesse und Positionen in anderen Arenen stärker einbringen würde. Das Weißbuch Multilateralismus der Bundesregierung bietet hier die Gelegenheit für eine gemeinsame Strategie.  

Die Bundesregierung sollte Mechanismen für Multi-Stakeholder Partnerschaften innerhalb der UN stärken  

Der ECOSOC ist außerdem für die Zusammenarbeit mit nichtstaatlichen Akteuren zuständig. Er beheimatet das NGO-Komitee, in dem die UN-Mitgliedstaaten über den Beobachterstatus nichtstaatlicher Organisationen bei den UN entscheiden. Wenn Deutschland betont, die Zivilgesellschaft stärken zu wollen, sollte es dieses Gremium nicht Mitgliedsstaaten mit zweifelhafter Reputation hinsichtlich zivilgesellschaftlicher Beteiligung überlassen

Beim ECOSOC sind zudem diverse Mechanismen für Multi-Stakeholder-Partnerschaften angesiedelt, deren Potential die UN als Inkubator gezielter fördern und nachhalten sollte. Der „Partnership Accelerator“ und eine Online-Plattform sind zaghafte erste Schritte in diese Richtung. Um aber sinnvolle Verbindungen zu multilateralen Prozessen zu entwickeln, muss die Netzwerkfähigkeit der UN deutlich besser werden, samt multilateral vereinbarten Prinzipien und Regeln und einer effektiver aufgestellten Infrastruktur. So sollten die UN-Aktivitäten zu Partnerschaften effizienter verknüpft werden, u. a. die des bislang eher schwach aufgestellten UN-Büros für Partnerschaften (UNOP) und des alljährlichen ECOSOC Partnership Forums.  

Das Weißbuch nutzen, um operative Vorschläge für einen vernetzten Multilateralismus in und mit den UN zu machen  

Im Weißbuch zum Multilateralismus sollte die Bundesregierung nicht nur darlegen, dass sie den Multilateralismus stärken möchte, sondern auch wie sie das erreichen will. Sie sollte zum einen überlegen, wie sie kurzfristig das bestehende Potential des ECOSOC bestmöglich nutzen und unterstützten will. 2021 steht ein gemeinsamer Review von ECOSOC und HLPF auf der Tagesordnung der Generalversammlung. Das bietet die Chance, die Vorteile beider Foren zu kombinieren: das HLPF, welches eine Vielzahl an hoch motivierten Teilnehmern anzieht, jedoch in Mandat und Dauer eingeschränkt ist, und der ganzjährig tagende ECOSOC mit seinem weitreichenden Mandat und Apparat als Hauptorgan der UN. Beispielsweise könnten ECOSOC-Prozesse besser für die Vor- und Nachbereitung des HLPF genutzt werden.  

Mittelfristige Reformpläne auf die Agenda der Allianz für den Multilateralismus setzen  

Zum anderen sollte die Bundesregierung eine Vision für den mittelfristigen Umbau des ECOSOC entwickeln. Beherzte Reformen in Richtung eines UN Sustainable Development Systems oder UN Sustainable Development Councils, verbunden mit einem effizienteren Zusammenspiel mit der Generalversammlung, mögen im Moment nicht realisierbar sein. Die Bundesregierung sollte sich jedoch über ihre eigenen Vorstellungen klar werden und parallel Gestaltungsideen mit Partnern entwickeln. Die in der Allianz für den Multilateralismus aktiven Staaten sollten ihre Vorreiter-Initiativen strategisch im Sinne eines vernetzen Multilateralismus ausrichten. In der Gruppe zu „Strengthening Institutions“ könnte darüber nachgedacht werden, wo und wie ein UN-Netzwerkknoten für Multi-Stakeholder-Initiativen auf- oder ausgebaut werden könnte, der die UN in die Lage versetzen würde, solche Partnerschaften kompetent zu begleiten.  

Die Beharrungskräfte im UN-System sind enorm und das Interesse an einer wirksamen Zusammenarbeit für Reformen bei vielen Mitgliedstaaten aus unterschiedlichen Gründen (schon länger) gering. Gerade deshalb bietet es sich an, bestehende Potentiale bestmöglich zu nutzen, um die UN über einen vernetzten Multilateralismus bereits jetzt zu stärken und gleichzeitig für weitere Reformschritte vorbereitet zu sein, sobald es die geopolitische Lage ermöglicht.

Vereinte Nationen Partner Multilateralismus

Marianne Beisheim

Marianne Beisheim ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Globale Fragen der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. @MBeisheimSWP

Felicitas Fritzsche

Felicitas Fritzsche ist Forschungsassistentin in der Forschungsgruppe Globale Fragen der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in Berlin. @felicitashenni