Die Zukunft von Krisenprävention und Friedensförderung: Im Wahlkampf nichts Neues?

30. Juni 2021   ·   Raphael Bodewig

In ihren Wahlprogrammen erklären die Parteien ihre Grundpositionen zum deutschen Krisenengagement und Vorschläge für strukturelle Veränderungen in Partnerländern, bleiben aber häufig vage. Konsens und Differenzen zu zivilen Instrumenten, vernetztem Ansatz und Rüstungsexporten könnten einen spannenden Wahlkampf versprechen – wenn sich die Parteien in Debatten klarer positionieren.

Das Wahljahr 2021 ist voller Großkrisen. Vorzeigeerfolge einer „früheren, entschiedeneren, substantielleren“ deutschen Außenpolitik der Prävention und Konfliktbewältigung sind im äthiopischen Bürgerkrieg, dem hastigen Truppenabzug aus Afghanistan oder dem Militärputsch in Mali jedenfalls nicht zu erkennen. Wie positionieren sich Union, SPD, Bündnis 90/Die Grünen, FDP, DIE LINKE und AfD im Wahlkampf dazu? Auf insgesamt über 600 Seiten Wahlprogramm der Parteien muss mit der Lupe nach konkreten Handlungsoptionen für deutsches Krisenengagement gesucht werden. Dann lassen sich jedoch sowohl aussichtsreiche Kompatibilitäten als auch drohende Spannungsfelder zwischen den Parteien erkennen. Anstatt die geopolitischen Großdebatten nachzuzeichnen, schaut dieser Beitrag darauf, was konkret geplant und vor Ort umgesetzt werden soll: Welche Strategien, Mittel und Maßnahmen wollen die Parteien in der nächsten Legislaturperiode in der Friedensförderung und Krisenprävention einsetzen oder verändern?

Gretchenfrage: Wie halten Sie es mit militärischen und zivilen Mitteln?

Die Union möchte grundsätzlich fragile Regionen durch eine Kombination von militärischen und zivilen Komponenten stabilisieren (integrierter Ansatz) und staatliche Strukturen stärken. Dabei setzt sie unter anderem auf mehr Teilhabe der Bundeswehr an internationalen Friedensmissionen und den Ausbau von Sicherheitssektoren in Partnerländern. Durch Ertüchtigung, Militärausbildung und Befähigung sollen Staaten in die Lage versetzt werden, „für ihre eigene Sicherheit zu sorgen.“ SPD und Grüne hingegen möchten zivile Mittel zum Krisenengagement ausbauen. Die Linke geht sogar einen Schritt weiter und fordert den Ausstieg aus allem Militärischen. Sie lehnt eine Regierungsbeteiligung ab, sollte die Koalition Auslands- und Friedensmissionen befürworten.

Die Grünen bekennen sich klar zur internationalen Schutzverantwortung (R2P). Ein vorschnelles militärisches Eingreifen wollen sie aber um jeden Preis verhindern und setzen dabei auf ein notwendiges völkerrechtliches UN-Mandat für Bundeswehreinsätze. Auch die FDP verpflichtet sich zur R2P, verfolgt aber einen „vernetzten Ansatz“, der militärisches, diplomatisches und entwicklungspolitisches Handeln verknüpft.

Strukturelle Geschlechterungerechtigkeit: Direkt angehen, erwähnen oder auslassen?

Strukturelle Änderungen in Partnerländern sollen helfen, Konflikte zu bewältigen, Frieden nachhaltiger zu gestalten und Fluchtursachen zu verhindern – so die Wahlprogramme von Grünen, SPD und Linken. Einen wichtigen Hebel sehen diese Parteien in einer fairen Handelspolitik. Dass auch Klimaschutz Fluchtursachen mindert und Krisen vorbeugt, schreiben nur die Linke und die Grünen. Die FDP hingegen möchte sich in fragilen Kontexten besonders der Achtung des Rechtsstaats und der Menschenrechte widmen. Durch Belohnung bei guter Regierungsführung, Förderung der Zivilgesellschaft und Entwicklungszusammenarbeit sollen „Grundvoraussetzungen für Wachstum und Entwicklung“ geschaffen werden.

Während FDP, SPD und die Linke die UN-Resolution 1325 „Frauen, Frieden, Sicherheit“ lediglich nennen und umsetzen wollen, werden die Grünen konkreter in Bezug auf strukturelle Geschlechterungerechtigkeit: Sie fordern „regelmäßige Genderanalysen für einzelne Länderkontexte“, Gender Budgeting und 50% Posten für Frauen in internationalen Friedensprozessen. Das Parteiprogramm der CDU/CSU schweigt zu diesem Thema, während sich die AfD dagegenstellt.

Konkrete Änderungen vor Ort: Rüstungsexporte spalten die Parteien

Die Stabilisierung fragiler Staaten und Regionen erwähnt das Wahlprogramm der Union häufiger als das der anderen Parteien. Im Sinne der Ertüchtigungsinitiative soll die Bundeswehr auch mit Streitkräften der Partnerländer kooperieren – und: auch „Rüstungsexporte sind dabei ein gestaltendes Element der Sicherheitspolitik“. Die FDP kann sich vorstellen, „sofern geboten“ Sicherheitskräfte auf dem afrikanischen Kontinent zu unterstützen, aber auch hier nur mit Anreizen für gute Regierungsführung.

Die anderen Parteien stehen der Kooperation mit Sicherheitssektoren von Partnerländern sehr kritisch gegenüber. Nur mit Einhaltung demokratischer, rechtsstaatlicher und menschenrechtlicher Kriterien lautet die Devise der Grünen. Besonders ablehnend sind Grüne und Linke gegenüber Kooperationen mit und der Ausrüstung von Sicherheitskräften undemokratischer Staaten. Während die Grünen wirksamere Kontrollen und Sanktionierungen fordern, möchte die Linke „perspektivisch […] alle Rüstungsexporte aus Deutschland einstellen“. Die SPD hingegen erwähnt Sicherheitssektorreform nicht als mögliches Instrument und verweist nur auf eine striktere Rüstungsexportpolitik.

Mehr ziviles EU-Krisenengagement fordern die einen; die anderen schweigen

Zivile Instrumente sind für SPD, Grüne und Linke am wichtigsten im Krisenengagement – und bleiben unerwähnt in den Wahlprogrammen der anderen Parteien. Die SPD setzt auf die „Vorreiterrolle“ der EU in ziviler Krisenprävention und plant, akute Konfliktsituationen mithilfe von „Friedensemissären“ zu entschärfen und das Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) zu stärken. Auch die Grünen wollen zivile Mechanismen auf EU-Ebene ausbauen: EU-Expert*innen für zivile Konfliktprävention sollen für den Einsatz an Orten, an denen Eskalation droht bereit stehen. Dazu zählen Mediator*innen, Polizist*innen internationaler Polizeimissionen und Justizfachkräfte. Zudem möchten die Grünen den zivilen Friedensdienst (ZFD) in Krisenregionen stärker ausbauen und finanzieren. Die Linken plädieren ebenfalls für „zivile Konfliktlösung und Konfliktprävention“, bieten aber nur wenige vage Vorschläge zur Ausgestaltung vor Ort.

Gegensätzliche Positionen beziehen die Parteien bei deutschen Militäreinsätzen. Laut Union sollte Deutschland durch bewaffnetes Engagement insbesondere für Stabilität in der europäischen Nachbarschaft mehr Verantwortung tragen, auch durch die vermehrte Teilnahme an robusten Einsätzen und Friedensmissionen. Die Grünen möchten die „Responsibility to Prepare, Protect and Rebuild“, wenn Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Völkermord drohen, auch mit militärischen Mitteln durchsetzen. Allerdings seien militärische Friedenseinsätze als Ultima Ratio nur mit UN-Mandat vertretbar, bedürfen eines klar umsetzbaren Auftrags und regelmäßigen, unabhängigen Evaluierungen. Die FDP möchte 3% des Bruttoinlandprodukts im Sinne eines vernetzten Ansatzes für „3D – defence, development, and diplomacy“ investieren.

Diesen vernetzten Ansatz verfolgt auch die CDU/CSU, allerdings bekennt sie sich bei der Finanzierung explizit zur schon für die letzte Wahl diskutierten 2%-NATO-Quote. Die Linken hingegen möchten jegliche Mittel für militärische Interventionen – inklusive UN-Friedensmissionen – in zivile Aufbau- und Friedensinstrumente „umwidmen“. Die SPD bekennt sich weder zur R2P noch bietet sie eine klare Vision gegenüber internationalen militärischen Interventionen. 

Deutsche Sicherheitsarchitektur: Kommen Nationaler Sicherheitsrat und strategische Vorausschau?

Vorrausschauender, einheitlicher und koordinierter – so stellen sich FDP und Grüne die deutsche friedens- und sicherheitspolitische Entscheidungsfindung in Berlin vor. Die FDP möchte ressortübergreifend die „sicherheitspolitischen Entscheidungsstrukturen anpassen“ und setzt sich für die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrats mit gebündelten Kompetenzen ein. Eine Institution, die „aus Ressortpolitik gesamtstaatliche Politik macht“, plant auch die CDU/CSU im Kanzleramt. Dieser Vorschlag dürfte bei den Grünen Anklang finden. Sie fordern einen ressortgemeinsamen Fonds für Krisenprävention, Konfliktbewältigung und Friedensförderung. Im Sinne einer „Politik, die vorrausschaut“, bezieht das grüne Wahlprogramm hier konkret den Ausbau von Krisenfrüherkennung und Analysekapazitäten mit ein. Auch die Union erwähnt „strategische Vorausschau“. Bei den anderen Parteien findet dies keinen Platz im Programm. Die Sozialdemokrat*innen fordern aber einen Konflikt-TÜV auf parlamentarischer Ebene, der neue Programme und Gesetze auf Widersprüche zu friedenspolitischen Zielen testet.

Den Wahlprogrammen fehlt es an innovativen oder konkreten Ideen

Die Union zeigt mit ihrem Stabilisierungsjargon die wenigsten Vorbehalte, in akuten Krisen zu intervenieren. Implizit geht damit auch eine Toleranz zur Kooperation mit nicht-demokratischen Akteur*innen einher, die heute Stabilität versprechen, aber potentiell den Krieg von morgen entfachen. Das Beharren auf der 2%-NATO-Quote, zeigt zudem, dass neue Ideen oder eigene Impulse im Wahlprogramm der Union ausbleiben. Einige Positionen (z.B. zur Stabilisierung der Sahelzone) erwecken den Eindruck, dass sie sich stattdessen an Bündnisverpflichtungen gegenüber Frankreich orientiert.

Die Grünen, SPD und Linke hingegen äußern massive Bedenken, mit Sicherheitssektoren undemokratischer und kriegstreibender Staaten zu kooperieren. Allerdings bleiben ihrerseits die Vorschläge für alternative Maßnahmen in fragilen Kontexten vage.

Die Wahlprogrammrhetorik zu Fluchtursachenbekämpfung und strukturellen Veränderungen kann nicht über die fehlende inhaltliche Substanz hinwegtäuschen, wenn es um den Umgang mit bewaffneten Konflikten als direkte Ursache für Flucht und menschliches Leid geht. Mit Blick auf akute Krisen wie im Norden Malis, der Tschadsee-Region oder Nord-Mosambik wecken auch die verschiedenen Vorschläge für zivile Mittel berechtigte Zweifel: Weder der Totalausstieg aus dem Militärischen (Linke), noch der Ausbau ziviler Mittel (Grüne und SPD) oder bessere Kontrolle von Militäreinsätzen (Grüne) liefern Antworten, die den Herausforderungen dieser Krisen gerecht werden. Und auch der Menschenrechtsjargon der FDP kratzt nur an der Oberfläche, was genau bei schwersten Verbrechen gegen die Menschlichkeit passieren soll: Das Thema deutscher Handlungsfähigkeit in Massenverbrechen wird im Programm der Liberalen in nur einem Satz abgespeist.

Wer kann mit wem? Ein friedenspolitischer Koalitionscheck

Für die wahrscheinlichsten Regierungskonstellationen gibt es Überschneidungen in den Parteipositionen. Bei einer schwarz-grünen Koalition oder auch einer Jamaica-Koalition teilen alle Parteien den Anspruch, mehr friedens- und sicherheitspolitische Verantwortung zu übernehmen. Es gäbe wohl keine prinzipiellen Blockaden. FDP und Union sind sich über den vernetzten Ansatz einig, während die Forderung zur Einhaltung der 2%-NATO-Quote der CDU/CSU für Konfliktpotential mit den Grünen sorgen könnte. Gleichzeitig würden die Grünen bei der Kooperationen mit nicht-europäischen und gegebenenfalls undemokratischen Partnerländern, Waffenexporten und militärischer Ertüchtigung auf die Bremse treten. Das R2P-Bekenntnis der Partei könnte hingegen eine transparente Arbeitsgrundlage für ein prinzipienorientiert(er)es deutsches Krisenengagement schaffen.

Eine grün-geführte Ampelkoalition kann friedens- und sicherheitspolitisch weitestgehend auf Einigkeit bauen. Wettbewerb in den Nuancen könnte hier die Regierungsbildung beleben, vor allem auf Grundlage einer gemeinsamen Bereitschaft zu den notwendigen Investitionen in „diplomacy, defense and development“, denen das 3%-Ziel der FDP einen Rahmen gäbe. Für eine momentan eher unwahrscheinliche grün-rot-rote Koalition bildet die klare Ablehnung der Linken gegenüber Auslandseinsätzen und Friedensmissionen eine Sollbruchstelle. Zur erfolgreichen Regierungsbildung wäre daher ein Kurswechsel notwendig.

Mehr öffentliche Debatten für konkrete, realistische Vorschläge

In den Wahlprogrammen der Parteien fallen militärisches Krisenengagement und die Kooperation mit Sicherheitssektoren als besonders kontrovers auf. Trotz viel geäußerter Kritik mangelt es allerdings an konkreten Alternativvorschlägen und Anwendungsbezug. Viele Forderungen bleiben schwammig. Die Parteien sollten sich deshalb in öffentlichen Debatten, wie etwa zuletzt in dem Spitzenkandidat*innen-Triell der Münchner Sicherheitskonferenz, klarer positionieren: Wie möchten sie mit bewaffneten Konflikten in der europäischen Nachbarschaft und der Welt umgehen? Welche Werkzeuge der Krisenprävention und Friedensförderung sollen bereitstehen, wenn sich das nächste Mali oder Afghanistan anbahnt? Der Stellenwert und die Ausformulierung anwendbarer Vorschläge wird Deutschlands Rolle in der Welt folgenreich beeinflussen – das sollte die Parteien und ihre Wähler*innen ermutigen, sich bis September über ihre Programme hinaus Gedanken zu machen.

Friedensförderung Stabilisierung Krisenprävention

Raphael Bodewig

Raphael Bodewig ist Research Assistant beim Global Public Policy Institute (GPPi) und studiert International Affairs an der Hertie School of Governance. @RaphaelBodewig